Zum Buch:
Die Darstellbarkeit von Gewalt und der Unmöglichkeit des Lebens in einem Land, in dem die Gewalt als einzige Realität anerkannt wird, ist das Hauptthema des Romans Alle Hunde sterben. Ort der Handlung ist ein Hochhaus im Westen der Türkei, seine Bewohner sind vertriebene KurdInnen. In 9 Episoden wird die jeweilige Geschichte der BewohneInnen erzählt. Alle sind sie aus dem Osten, dem Süden, den Bergen geflohen; fast alle lassen sie tote oder verschollene Verwandte zurück. Sara erzählt davon, wie sie und ihre Freundin als Soldaten verkleidet der Verhaftung entkommen sind; Umut davon, wann er seine Tochter zum letzten Mal gesehen hat; Nurten pflegt ihren Mann Hasso, der verstört aus dem Gefängnis zurückgekehrt ist. Sie warten auf die Heimkehr ihrer verschollenen Söhne.
Der Gewalt sind alle durch ihre Flucht in den Westen, in dem Leben im Hochhaus nicht entkommen, ihre Verhaftung steht zu jedem Zeitpunkt im Raum; deswegen können Sie das Hochhaus nicht verlassen, aber bleiben können sie im Grunde dort auch nicht. Manche warten auf das erneute Treffen mit Freunden und Verwandten, andere auf die Chance zur Abrechnung. Niemand in diesem Haus schläft tief. In dieser kammerspielartigen Atmosphäre entfaltet Sahin die Geschichten der Personen, Szenen von Folter, Gefangenschaft und Ausweglosigkeit, aber auch von Kampfgeist und Widerstandskraft; trotz der Ausweglosigkeit, aber vielleicht auch wegen ihr. „Das ist eine Krise, die das ganze Land beschäftigt. Also alle, die hier leben. Aber nicht alle reden darüber.“ Es ist das Verschweigen der Morde und der Folter, gegen die sich die Figuren auflehnen.
Den Horizont aller Episoden bildet eine Szene, die gleich am Beginn steht: „Über den linken Bildrand betreten Uniformierte das Hochhaus. Sie stürmen die Treppe hinauf.“ In welche Wohnung wollen sie? Wen trifft es dieses Mal? Ihr Schicksal mag das gleiche sein, die Präsenz von Gewalt in allen Episoden gleichermaßen allgegenwärtig und allmächtig, dennoch verlangen die Geschichten der Figuren des Romans jede für sich die Aufmerksamkeit des Lesers; vor der Brutalität der Gewalterfahrungen mögen sie austauschbar und konturlos erscheinen, aber dank Sahins extrem gerader Sprache werden die physische Gegenwart der Einzelnen ihre Verletzung präsent.
Alle Hunde sterben ist ein in nüchternster Sprache verfasstes Formexperiment, in dem Gewalt über Realität entscheidet und dem es gelingt, Wichtiges und Wahres über die Funktionsweise von Folter darstellbar zu machen. „Wer die Ereignisse nicht ohne Fiktion erzählen kann, hat sie nicht erlebt.“ Die Personen des Romans haben keine andere Geschichte als die Gewalt, die ihnen angetan wird. Das ist die Realität, für die Zeugnis abgelegt wird. Und zwar auf künstlerisch höchstem Niveau.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt