Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Sahin, Cemile

Alle Hunde sterben

Untertitel
Roman
Beschreibung

Cemile Sahins neuer Roman gibt gerade soviel Information über Ort und Zeit der Handlung, dass wir die sprechenden Figuren als verfolgte und vertriebene KurdInnen im Westen der Türkei einordnen können. Was folgt, ist ein Kammerspiel über Folter, Gewalt und ihre Darstellbarkeit. Mit den für Sahin mittlerweile bereits typischen Anleihen bei Film und Bildender Kunst ist auch ihr zweiter Roman nicht nur ein hochpolitischer Beitrag zur kurdischen Realität, sondern auch ein weiteres Zeugnis einer jungen und radikaleren Gegenwartsliteratur, welche den ästhetischen Status Quo der Gegenwarts-Prosa herausfordert.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Aufbau Verlag, 2020
Format
Gebunden
Seiten
239 Seiten
ISBN/EAN
978-3-351-03827-4
Preis
20,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Cemile Sahin ist Künstlerin und Autorin und wurde 1990 in Wiesbaden geboren. Sie hat in London und Berlin studiert und ist ars viva-Preisträgerin für Bildende Kunst. TAXI (Korbinian Verlag) war ihr Debütroman, ALLE HUNDE STERBEN ist ihr zweites Buch. Für ihr Schreiben wurde sie mit der Alfred Döblin-Medaille ausgezeichnet.

Zum Buch:

Die Darstellbarkeit von Gewalt und der Unmöglichkeit des Lebens in einem Land, in dem die Gewalt als einzige Realität anerkannt wird, ist das Hauptthema des Romans Alle Hunde sterben. Ort der Handlung ist ein Hochhaus im Westen der Türkei, seine Bewohner sind vertriebene KurdInnen. In 9 Episoden wird die jeweilige Geschichte der BewohneInnen erzählt. Alle sind sie aus dem Osten, dem Süden, den Bergen geflohen; fast alle lassen sie tote oder verschollene Verwandte zurück. Sara erzählt davon, wie sie und ihre Freundin als Soldaten verkleidet der Verhaftung entkommen sind; Umut davon, wann er seine Tochter zum letzten Mal gesehen hat; Nurten pflegt ihren Mann Hasso, der verstört aus dem Gefängnis zurückgekehrt ist. Sie warten auf die Heimkehr ihrer verschollenen Söhne.

Der Gewalt sind alle durch ihre Flucht in den Westen, in dem Leben im Hochhaus nicht entkommen, ihre Verhaftung steht zu jedem Zeitpunkt im Raum; deswegen können Sie das Hochhaus nicht verlassen, aber bleiben können sie im Grunde dort auch nicht. Manche warten auf das erneute Treffen mit Freunden und Verwandten, andere auf die Chance zur Abrechnung. Niemand in diesem Haus schläft tief. In dieser kammerspielartigen Atmosphäre entfaltet Sahin die Geschichten der Personen, Szenen von Folter, Gefangenschaft und Ausweglosigkeit, aber auch von Kampfgeist und Widerstandskraft; trotz der Ausweglosigkeit, aber vielleicht auch wegen ihr. „Das ist eine Krise, die das ganze Land beschäftigt. Also alle, die hier leben. Aber nicht alle reden darüber.“ Es ist das Verschweigen der Morde und der Folter, gegen die sich die Figuren auflehnen.

Den Horizont aller Episoden bildet eine Szene, die gleich am Beginn steht: „Über den linken Bildrand betreten Uniformierte das Hochhaus. Sie stürmen die Treppe hinauf.“ In welche Wohnung wollen sie? Wen trifft es dieses Mal? Ihr Schicksal mag das gleiche sein, die Präsenz von Gewalt in allen Episoden gleichermaßen allgegenwärtig und allmächtig, dennoch verlangen die Geschichten der Figuren des Romans jede für sich die Aufmerksamkeit des Lesers; vor der Brutalität der Gewalterfahrungen mögen sie austauschbar und konturlos erscheinen, aber dank Sahins extrem gerader Sprache werden die physische Gegenwart der Einzelnen ihre Verletzung präsent.

Alle Hunde sterben ist ein in nüchternster Sprache verfasstes Formexperiment, in dem Gewalt über Realität entscheidet und dem es gelingt, Wichtiges und Wahres über die Funktionsweise von Folter darstellbar zu machen. „Wer die Ereignisse nicht ohne Fiktion erzählen kann, hat sie nicht erlebt.“ Die Personen des Romans haben keine andere Geschichte als die Gewalt, die ihnen angetan wird. Das ist die Realität, für die Zeugnis abgelegt wird. Und zwar auf künstlerisch höchstem Niveau.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt