Zum Buch:
Ralf Rothmann, der Berliner aus dem Ruhrgebiet, schlägt in seinen jüngsten Erzählungen einen Ton an, dem man sich nicht entziehen kann und nicht entziehen sollte. Eine mit allen Wassern der Liebe gewaschene junge Frau begegnet einem schüchternen jungen Mann und entdeckt dabei ein Gefühl, das die Fassade ihrer Coolness zum Einsturz zu bringen droht: „Es fühlte sich an wie feinste Seide, nach der man im Schrankdunkeln greift, und man weiß kaum, ist das noch Stoff oder schon eine Flüssigkeit. Jetzt hätte er alles von mir haben können.“ Er aber will es nicht. Jetzt nicht. Vielleicht später. Auf diese oder ähnliche Weise verfehlt sich das Personal seiner Erzählungen, geblendet vom Lichteinfall des gelungenen Augenblicks, verkriechen sich die Beteiligten in das Gehäuse ihrer Ängste und Ideale, und wenn sie sich wieder hervortrauen, ist der Moment des Glücks schon Vergangenheit. Fritzi, die Protagonistin der titelgebenden Erzählung, gerät in einer Schultheater-Aufführung von Shakespeares „Othello“ an die Rolle Desdemonas und wird beim Studium der Texte der elisabethanischen Epoche mit der relativen Bedeutungslosigkeit ihrer Probleme konfrontiert: „Angesichts der Sorgen und Nöte seiner Gestalten, die ihre finsteren Schicksale wie riesige Kreuze mit sich herumschleppen, sind wir eigentlich nur Hühner, oder? Shakespeares Hühner. Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram – Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld – und wissen insgeheim doch alle , dass das nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.“ So larmoyant das klingen mag, lesbar und lesenswert werden Rothmanns Geschichten durch die wunderbare Fähigkeit des Autors, seine lethargischen, antriebsschwachen Akteure mit einem Funken des poetischen Empfindens auszustatten, der so etwas wie Hoffnung erlaubt. Wenn etwa in der „Traber-Sonate“ ein wegen Republikflucht zu zwölf Jahren Haft verurteilter Mann davon spricht, wie er aus seiner Zelle auf eine Rennbahn schaute und sich Tag für Tag daran aufrichtete, dass „die Pferde schwebten, eine Sekunde lang schwebten“, teilt man als Leser diese Wahrnehmung und empfindet Sympathie für einen vom Schicksal gebrochenen Menschen und für den Autor, der ihn erfunden hat.
Günter Franzen, Frankfurt am Main