Zum Buch:
Es sind Sommerferien. Wie jedes Jahr verbringt der dreizehnjährige Lauri diese Zeit auf dem Bauernhof seines Onkels Eino in dem kleinen Dorf Latvala im Norden Finnlands. Eino gehört mit seiner Familie zu einer strenggläubigen Erweckungssekte, mit der Lauris Vater, als er in die Stadt zog, gebrochen hat. Zusammen mit Einos Kindern, dem gleichaltrigen Cousin Leo und dessen ein Jahr älterer Schwester Sonja, hilft Lauri bei der Heuernte und tränkt das Vieh. Abgesehen von der erwünschten Teilnahme an den Radioandachten und Erweckungsversammlungen sind die drei weitgehend sich selbst überlassen. Die Erwachsenen sind mit dem Hof beschäftigt und fest in ihren Glauben eingebunden, der sie blind macht für das, was mit den Kindern geschieht. Nur am Rand dieser Welt gibt es ein paar Außenseiter: Mooses Kallio, Lauris Großvater, der aus der Gemeinde ausgestoßen wurde und am anderen Ende von Einos Ländereien lebt, und der Erntehelfer Lotvonen, ein undurchschaubarer Mann, den die Kinder unheimlich finden.
Die drei haben sich immer gut verstanden – aber in diesem Sommer ist etwas anders geworden. Die feenhafte, ungestüme Sonja erfindet immer neue Spiele für die Gruppe und entführt sie in eine sinnliche Phantasiewelt, in der Bäume Leben und Steine eine Seele haben. Die Kinder rennen und klettern. Sie erproben ihre Körper – auch sexuell – und verschieben ihre Grenzen immer weiter. In ihrer selbstgeschaffenen Welt regiert eine sinnliche Unschuld, die ihre eigenen Regeln hat und völlig außerhalb der Welt der Erwachsenen existiert, was ihnen durchaus bewusst ist. Jeder Tag birgt neue Erfahrungen – bis eine Katastrophe alles verändert und Trauer und Schuld dem luftigen Treiben ein Ende machen.
Rax Rinnekangas atmosphärisch dichte, erstaunlich klischeefreie Sprache macht die hellen Phasen des Glücks sinnlich erfahrbar, genauso wie die Traurigkeit und die Selbstzweifel, die Angst und die Wut nach dem Unglück. So steht bei der Schilderung von Lauris Tante und Onkel nicht die zu erwartende Engstirnigkeit und Freudlosigkeit der Sekte im Vordergrund, sondern ihr großer Ernst bei allem, was sie tun. Es sind spröde Menschen, die nicht viele Worte machen und ihre Gefühle in den Ekstasen der Erweckungsversammlungen ausleben. In der klar strukturierten Einfachheit ihres Lebens, in dem Arbeit und Andachten sich abwechseln, fühlt sich der aus der Stadt kommende Lauri wohl. Dass die Erwachsenen die Verwirrung der Kinder nach dem Unglück nicht wahrnehmen, lässt sie mit ihren Problemen zwar allein, schützt sie aber zugleich auch.
„Der Mond flieht“ erzählt vom jähen Ende der Kindheit. In einem sich ständig steigernden Rausch haben Sonja, Lauri und Leo ihre Grenzen ins Unermessliche erweitert, um dann jäh abzustürzen. Wie Ikarus sind sie der Sonne zu nahe gekommen, und die Erinnerung an ihren Sturz wird sie ihr Leben lang begleiten.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx und co, Frankfurt