Zum Buch:
Noel liebt zwei Dinge ganz besonders: AC/DC und Mumsie, seine Mutter. Noel ist ein fröhlicher Junge, der seine Gefühle offen und deutlich zeigt. Eines Nachts findet er seine Mutter im Badezimmer liegend, im Krankenhaus wird sie in ein künstliches Koma versetzt. Noel versteht das nicht. Er wird in ein Dorf gebracht, in dem er eine neue Heimat finden wird und eine neue Liebe.
Noel hat eine Behinderung. Welche, erfahren wir nicht genau. Das spielt aber auch keine Rolle. Noel kann nicht ohne Unterstützung leben, und die bekommt er in diesem Dorf. Das Dorf liegt in der Nähe von Wolfenbüttel, heißt Neuerkerode, eine Evangelische Stiftung hat dort vor 150 Jahren Einrichtungen u.a. für Behinderte gegründet. Der Comickünstler Mikael Ross wurde von der Stiftung gebeten, eine Graphic Novel über die Bewohner zu schreiben. Er hat dort gewohnt und die Charaktere kennengelernt, die uns in seinen hinreißenden Geschichten begegnen. Im Mittelpunkt steht Noel, aber es ist genug Raum für seine Freunde (und Widersacher) und deren Schicksale. Dazu gehört ein Rückblick in die Nazizeit , als auch aus Neuerkerode Insassen mit den berüchtigten Grauen Bussen abtransportiert und dann ermordet wurden.
Noel muss lernen, einen Verlust zu akzeptieren und weiter zu leben. Das macht die Geschichte allgemeingültig, und Ross tritt generell in keines der Fettnäpfchen, wie man sie ansonsten (spätestens seit „Rainman“) gerne findet, wenn Menschen mit Behinderung eine Rolle in Geschichten spielen. Die Souveränität und Offenheit, mit der auch das in diesem Zusammenhang gerne tabuisierte Thema Sexualität angesprochen wird, ist beeindruckend.
Stilistisch, zeichnerisch ist Mikael Ross der derzeit aufregendste Vertreter seiner deutschsprachigen Zunft. Er ist schwerlich einer Schule zuzuordnen, und arbeitet auch von Buch zu Buch mit unterschiedlichen Mitteln. Die Figuren in Der Umfall wirken fast so, als wären sie Underground-Cartoons entlehnt, expressiv, aber äußerst genau in den Regungen. Architektur und Interieurs sind exakt und detailreich, durch den lichten Farbauftrag aber immer lebendig. Überhaupt, die Farben: Die Palette erinnert mitunter an Grafiken des großartigen Charlie Harper aus den 60er Jahren, aber auch an Lisl Stich. Ross nutzt den Platz, den ihm das großzügige Format bietet. Immer wieder öffnet sich an den oft dramatischen Übergängen in Noels Leben die ganze Seite.
Der Umfall ist ein wunderbar gezeichneter Comic, er berührt, beeindruckt und ist an manchen Stellen unglaublich witzig. Das Buch ist ein ebenbürtiger Nachfolger von Totem, der überragenden Graphic Novel, die Ross im letzten Jahr vorgelegt hat.
Jakob Hoffmann, Frankfurt am Main