Zum Buch:
Im Schatten eines üppigen Rosenbuschs verborgen, die Hände in den Maschendrahtzaun gekrallt, beobachtet Benjamino vom Garten des elterlichen Hauses aus den Hof der gegenüberliegende Irrenanstalt, und für einen Augenblick erscheinen ihm die Verrückten in ihren langen Hemden wie herumstreichende Gespenster. Er steht oft hier draußen. Ganz besonders jetzt, wo sein Vater tot ist. Er weiß, er muss bald eine Möglichkeit finden, seine Familie zu unterstützen, nur weiß er nicht wie. Zwar ist er dank seines hinkenden Beins vom Wehrdienst befreit worden. Doch konnte er wegen des Unfalls die letzten Prüfungen nicht ablegen, und die auf wiederholtes Nachfragen der Mutter geäußerte Absicht, sein Studium doch noch zu beenden und als Arzt zu promovieren, ist und bleibt ein vages Versprechen.
Es ist dann die Großmutter, die die ihn, Benjamino, häufig beobachtet, wie er da am Zaun steht, und die die richtige Idee hat. Schon am nächsten Tag bekommt er eine Anstellung als Aufseher in der Irrenanstalt. Er macht sich gut. Findet rasch Kontakt zu den Patienten. Mit einigen schließt er sogar Freundschaft, zum Beispiel mit Cavani, den alle nur Professor Cavani nennen, weil er unentwegt Homer zitiert, oder mit einem jungen Mann, Fosco, der immerzu mit in den Himmel gerichtetem Blick nach imaginären Vögelschwärmen Ausschau hält. Mit dem Eintreffen des charismatischen Doktor Rattazzi, der mit seinen neuen Ideen für eine menschenwürdigere Umgangsform in der Anstalt sorgt, bricht für die Patienten eine, wenn auch kurze, Zeit der Ruhe an. Denn der von Mussolini lange angekündigte Krieg gefährdet die Oase, und als die ersten Bomben den nahegelegenen Bahnhof treffen, beschließt der Doktor, die Patienten mit Benjaminos Hilfe in eine abgelegene Bergresidenz zu evakuieren, in der Hoffnung, seine Arbeit fortsetzen zu können. Doch nur zu rasch erreicht sie der Wahnsinn des Krieges auch dort.
Als ich vor Jahren Ugo Riccarellis Roman „Der vollkommene Schmerz“ gelesen hatte, war ich hinterher wie gerädert ob dieser Macht, Sprache zu gebrauchen wie Farben für ein Gemälde, dieser wie für alle Zeiten in Stein gemeißelten Sätze. Ich war so fasziniert, daß ich mir gleich noch das passende Hörbuch besorgt habe. Jetzt ist mit „Die Residenz des Doktor Rattazzi“ endlich ein neuer Roman auf Deutsch erschienen und ich habe keine fünf Stunden gebraucht, um ihn zu lesen, will sagen, zu verschlingen. Auch wenn die Übersetzerin eine andere ist, so bleibt doch diese außergewöhnliche Sprachgewalt erhalten. Dadurch und durch die äußerst geschickt platzierten Wendungen dieses kleinen Meisterwerks erfährt der Leser ein ebenso spannendes wie unvergessliches Leseerlebnis.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln