Zum Buch:
Das Interesse an Reportagen aus Sowjet-Russland war in den 20er Jahren groß, und so hatten sie einen festen Platz in den Feuilletons der großen deutschen Zeitungen dieser Zeit. Eine der KorrespondentInnen dieser Zeit war Angela Rohr, die nach ihrem Studium der Medizin und Psychoanalyse 1925 nach Russland emigrierte. Von ihren zahlreichen KollegInnen unterscheidet sie nicht nur die Tatsache, dass sie eine der ersten weiblichen Korrespondenten war, sondern auch, dass sie Moskau und die zahlreichen anderen Städte und Regionen, die sie besuchte, nicht als Reisende und Gast beschrieb und wahrnahm. Vielmehr erhalten wir eine Art Innensicht auf das Wesen und vielleicht auch die Struktur der Orte. Rohrs Reportagen sind nicht zuletzt deshalb so lesenswert, weil sie nicht versuchen, ihre LeserInnen mitzunehmen, für sie Reisende und Berichtende zu sein, sondern weil die Autorin sich selbst als Teil des Ortes begreift, von „unserer Stadt“ spricht.
Das Moskau der späten 20er und frühen 30er Jahre wird uns nicht anhand der politischen und geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit nahe gebracht, auch das gesellschaftliche Leben und die sozialen Umstände werden nicht dargestellt. Und doch scheint all das in den Erzählungen Rohrs auf. So ist das, was die Autorin in ihrer ersten Erzählung als charakteristisch für Moskau benennt, nicht etwa der Winter, den sie fast ironisch ins Bild bringt, sondern die Verwendung und der Verkauf künstlicher Blumen. Gepflogenheiten und teils skurrile Anstandsregeln sind in ihren Erzählungen häufig Thema. Ein anderes wiederkehrendes Thema ist die Architektur. In einer der besten Erzählungen des Buches richtet Rohr den Blick auf einen Milizionär und sein aussichtsloses Unterfangen, die Straßen Moskaus zu überblicken. Das Bewusstsein der Arbeitsklasse erkennt Rohr im Umgang in der Straßenbahn und im Warten im Schuhgeschäft. Rohrs Figuren sind oft von einer tragisch-komischen, immer aber aufrichtigen Färbung. In ihnen gelingt es Rohr, im Kleinen das Ganze aufscheinen zu lassen, ohne dass man genau sagen könnte, was dieses Große sein sollte oder sein könnte.
Die Aufteilung dieses Sammelband nach Reportagen, geordnet nach den Schauplätzen, und Erzählungen ist hilfreich, weil sich die Betrachtungen zu einem Ort wie Schichten übereinanderlegen und so das Bild vertiefen. Es wäre jedoch falsch zu glauben, die Reportagen stünden den Erzählungen an literarischer Tiefe nach. In ihrer genauen Betrachtung des Alltäglichen erinnern sie nicht nur an die berühmte Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin, sondern auch an die ebenfalls zuerst im Feuilleton erschienenen Erzählungen Die Gelbe Straße von Veza Canetti.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt