Zum Buch:
Das neue Buch von Kathrin Röggla setzt sich auf Basis genauer Recherche, insbesondere in Auseinandersetzung mit den Aufzeichnungen durch NSU-Watch, mit dem Gerichtsverfahren gegen den NSU auseinander. Der Prozess, dessen Hauptverhandlung sich mit 375 Verhandlungstagen über 5 Jahre, von 2013 bis 2018 erstreckte, wird bei Röggla aus der Warte der BesucherInnen-Tribüne geschildert. Anders als etwa jüngst Emmanuel Carrère in seinem jüngsten Roman V13 – welcher ebenfalls eine Gerichtsverhandlung von zeitpolitischer Brisanz zum Gegenstand hat, nämlich den Prozess gegen die Attentäter der Anschläge in Paris 2015, – entscheidet sich Röggla gegen das autofiktionale Ich, das in unserer Gegenwartsliteratur eine starke Präsenz entwickelt hat. Das Ich eines Textes leistet den doppelten Dienst, dass alles, was von seiner Warte aus geschildert wird, zugleich als subjektiv angreif- oder verhandelbar erscheint, während es durch seine Singularität und die darin liegende Ambivalenz an Überzeugungskraft und Authentizität gewinnt.
Dieses Vertrauen in die Perspektive und die Erzählung ist in diesem Roman grundlegend verunsichert. Eine Zeugenaussage, so erfahren wir in dem Buch, sollte wenn möglich zum ersten Mal in der Verhandlung formuliert werden, weil sie anders ihre Überzeugungskraft verliere; das innere Gefühl der Wiederholung lasse die Poetik des Berichts stocken und wirke unaufrichtiger. Im Gericht gelte außerdem die strenge Verpflichtung zur Mündlichkeit. Wie sich also ein literarisches Werk zu diesem Gegenstand in Bezug setzen kann, ist alles andere als offensichtlich. Und Röggla zieht daraus strenge Konsequenzen. Das Pronomen von Rögglas Prosa ist, wie auch schon in anderen Texten, das Wir. Dieses Wir nimmt auf der ZuschauerInnen-Tribüne Platz. Aus welchen Personen es sich zusammensetzt, scheint wechselhaft und zudem unklar zu sein; es grenzt sich klar gegen die Nazis ab, weitere einschränkende oder gar einende Merkmale weist es aber nicht auf. Es ist die (demokratische) Öffentlichkeit, die hier im Wir zur Sprache kommt. Wie sich schon angedeutet hat, wird so die Tribüne nicht nur zur Perspektive, sondern zum eigentlichen Fokus des Romans. Welche Rolle spielt diese Öffentlichkeit in diesem Prozess, und umgekehrt: was verrät die Debatte über den Prozess über eben jene Öffentlichkeit?
Inwiefern stellen sich Fragen der Mitschuld, aber auch der Bedrohung an dieses Wir? „Das Gericht kann sich nur mit Vergangenem befassen“ lautet ein weiterer der im Klangteppich des Tribünendiskurses oft wiederholten Sätze. Während sich die Perspektive als üblicher Strukturgeber der Narration verabschiedet, treten Ort und Zeit an ihre Stelle: die Bestuhlung der Tribüne wird zum Fixpunkt; die Dramaturgie der Verhandlung, in ihren Wiederholungen und Aufschüben, zum Taktgeber.
In seiner Form löst der Roman ein gut kalkuliertes, aber nicht desto weniger dringliches Unbehagen aus. Teil eines Wir, das über seine Identität keinerlei Aufschluss gibt, möchte kaum jemand noch sein; insbesondere nicht in einem Kontext, wo ein Völkisches Wir im Raum steht. Und es ist dieses Unbehagen, das Laufendes Verfahren zu einem Debattenbeitrag und Debattentrigger machen kann, weil es die Positionierung und Selbstbefragung des Lesenden unmittelbar provoziert.
Wegen seiner poetischen Eigenwilligkeit und Ernsthaftigkeit, aber auch wegen seiner politischen Relevanz ist Laufendes Verfahren ein entscheidender Teil der Gegenwartsliteratur und ist zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Theresa Mayer, Frankfurt a. M.