Zum Buch:
Den Inhalt von Ismet Prcics Romanerstling „Scherben“ kurz zusammenzufassen ist schlicht unmöglich. Das Buch entzieht sich jeder Form und Ordnung. Ein Versuch soll trotzdem gemacht werden:
Der Autor Ismet Prcic schreibt einen als Roman bezeichneten Text. Der besteht aus unverbundenen kürzeren und längeren Notizen, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen eines gewissen Ismet Prcic, die dieser, wie aus Fußnoten hervorgeht, an jemanden namens Eric Carlsen geschickt hat, der vom Autor des Romans in seiner Danksagung ausdrücklich erwähnt wird. Um die Verwirrung komplett zu machen, finden sich in den Notizen auch Aufzeichnungen eines jungen Mannes namens Mustafa, über den nichts weiter bekannt ist. Soviel zur Struktur des Romans. Nun zum Inhalt:
Dieses Buch ist das, was der Titel verspricht – ein Scherbenhaufen. Es erzählt von einem Land in Trümmern, von Menschen, die nicht nur ihr zu Hause oder ihre Lieben verlieren, sondern auch sich selbst. Es erzählt von Ismet, der vor dem Krieg in Bosnien nach Amerika zu seinem Onkel fliehen konnte und alles zurück lassen musste, was sein Leben bis dahin ausgemacht hat. In Kalifornien studiert er Theater und kreatives Schreiben. Aber er schleppt den Krieg mit sich. Er trinkt zu viel, nimmt Drogen, geht in Deckung, wenn ein Auto eine Fehlzündung hat, rastet beim kleinsten Anlass aus. Anfänglich lebt er bei einem Onkel, später bei wechselnden Bekannten, zum Schluss zieht er alleine umher.
Irgendwann rät ihm ein Psychologe, seine Erinnerungen aufzuschreiben und so vielleicht Ordnung in sein inneres und äußeres Chaos zu bringen. „Scherben“ sind diese Notizen. Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Tuzla, an die Eltern, den Bruder, an Freunde und seine Jugendliebe. So etwas wie Frieden kennt Ismet kaum. Fast so lange er sich erinnern kann, herrscht in seinem Leben Krieg. Feindschaft unter Nachbarn, das Leben im eingeschlossenen Tuzla, die Erfahrung, beschossen, bombardiert zu werden, fliehen, zurückkehren, ums tägliche Überleben zu kämpfen – das ist Normalität. Alles zerfällt. Das Land, die Familien, die Institutionen und das eigene Ich.
Als sich Ismet einer experimentellen Laien-Theatertruppe anschließt, bekommt der innere Zerfall kurzfristig eine Form: Theaterspielen als Rettung im doppelten Sinn. Die Truppe wird zu einem Festival nach Schottland eingeladen, und er nutzt die Gelegenheit, nicht mehr nach Bosnien zurück zu kehren. Er schafft es, die Einreisepapiere für Amerika zu bekommen, ins Land der Freiheit …
Neben den Erinnerungen, den verstörenden Notizen aus der Gegenwart, den verzweifelten Briefen an die Mutter gibt es noch Aufzeichnungen eines gewissen Mustafa, dessen Leben verblüffende Parallelen zu Ismets aufweist und der sich zunehmend in seine Gedanken und Erinnerungen drängt. Mustafa konnte nicht entkommen, er ist in Bosnien geblieben, wurde eingezogen und erlebt in der Armee all den Schrecken und die Brutalität dieses Krieges.
Dies klingt komplizierter, als es ist. Erstaunlicherweise gelingt es Prcic, den Leser schnell gefangen zu nehmen, ihn hineinzuziehen in die einzelnen Fragmente und Geschichten. Allerdings war ich beim Lesen ständig damit beschäftigt, „Ordnung“ in dieses beabsichtigte Chaos zu bringen. Ich habe mich gefragt, ob das nun autobiografisch ist (sicher in weiten Teilen) und was daran „wahr“ sein könnte. Die Stimme des jungen Ismet? Die Stimme Mustafa oder die des Autors? Mein Gehirn hat dieses Chaos schwer ausgehalten, gleichzeitig war ich völlig gebannt von der Entwicklung der jeweiligen Geschichte und konnte das Buch kaum zur Seite legen. Je weiter die Lektüre fortschreitet, je mehr man glaubt, irgend etwas in diesem Text zu fassen zu bekommen, desto mehr gehen alle Vorstellungen von linearer Erzählung und logischem Durchdringen dieses Textes in – Scherben. Das ist einfach großartig! Zudem ist das Buch witzig, ungestüm, temporeich und streckenweise irrwitzig komisch. Das hinzubekommen ist schon eine große Kunst.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt