Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Pierre, DBC

Jesus von Texas

Untertitel
Roman. Aus dem Amerikanischen von Karsten Kredel
Beschreibung

16 Schüler einer Highschool werden umgebracht. Einige klatschsüchtige Hausfrauen werden plötzlich zu Witwen. Und mittendrin der 15-jährige Vernon, dem es gelingt, immer zur richtigen Zeit am falschen Ort zu sein. “Jesus von Texas” ist eine schwarze Komödie über Gewalt in den USA.

Verlag
Aufbau,2005
Format
Taschenbuch
Seiten
383 Seiten
ISBN/EAN
978-3-7466-2150-0
Preis
8,95 EUR

Zum Buch:

Erst der Südturm, dann der Nordturm. Das Zwei-Phasen-Modell. “Warum” – ratlos wähnen sich jene, die angesichts Amok laufender Jugendlicher verstört diese Frage sich stellen; besorgte ‘Betroffene, zutiefst Betroffene, von Abscheu und Empörung erfüllte’ und soweiter, auf das ‘unvorstellbare, unsägliche Geschehen’ reagierende Normalbürger, die sich tage- wenn nicht wochenlang nicht mehr losreißen können von den in den Medien ausgebreiteten Details der ‘grauenvollen Tat’ von …Erfurt…Martirio…Madrid…und soweiter undsofort, die Kette will nicht mehr abreißen von ‘Events’ juveniler Selbstmordmassenmörder, die hochbewaffnet und entschlossen in ihre eigenen Schulen eindringen oder in Vorortzüge und im Dutzend wenn nicht gleich im Gros oder Schock ‘Beteiligte’ ebenso wie ‘Unbeteiligte’ dahinmetzeln und abschlachten in einem Wahn von ungezügeltem, blutrauschendem Terror und leiberzerfetzender Zerstörung. Eine Antwort findet DBC Pierre in seiner an ‘Zazie dans le métro’ erinnernden Novelle “Jesus von Texas”: “Hier ist nichts mehr normal, soviel steht fest – die Normalität scheint schreiend aus der Stadt geflohen, wahrscheinlich für immer. Ich hab wirklich versucht, das Leben zu kapieren, manchmal kam es mir sogar großartig vor. Doch damit hat sich’s erstmal, nach allem, was passiert ist. Ich meine, was soll das denn für ein Scheißleben sein?” Martirio, Texas, heißt der Ort, an dem sich das Schulmassaker ereignet, begangen von dem ausgegrenzten jugendlichen Mexikaner Jesus Navarro, der seine Mitschüler gleich reihenweise erschießt, und sein Freund Vernon jede-menge-middlename Gregory Little, der Erzähler, wird selbstredend als Mittäter verdächtigt, denn schließlich braucht man in jeder texanischen Kleinstadt wie anderswo auch einen Buhmann, wenn der eigentliche ‘Täter’ vermittels Selbstmord nicht mehr greifbar ist. Martirio, Texas, nomen est omen, aber es könnte jede andere Kleinstadt der westlichen Welt sein. In Martirio leben die Menschen im Takt der ölbohrenden Rieseninsekten, auf und ab geht das Gestänge der kleinen Ölbohrmonster, Kleinbürgerhäuschen zwischen Bohrgestänge gebaut, und das, was in Martirio Leben genannt wird, spielt sich zwischen Burger-Station und Fernseh-Wohnzimmer ab als lebendiges Spiegelbild der Soap-Operas aus dem Kasten, Lockenwickler-bewehrte, Burger-fressende, auf die Anlieferung des neuesten Kühlschrankmodells wartende, ihre ebensowenig unschuldigen Kinder quälende Klischee-Amerikanerinnen quasseln vor sich hin in der Hoffnung darauf, daß die Lachmaschine losgeht, ein Kleinstadtleben, als wären die Darsteller alle miteinander aus ihrer trostlosen Alltagswelt direkt in den Fernseher hineingekrochen und nie mehr herausgekommen. Der Ein-dimensionale Mensch – life. Life ist live. Und die halbwüchsigen Kids haben auch nichts anderes im Kopf als die neuesten Markenturnschuhe, die man als Kiddi so braucht, zum Weg-laufen oder wenn’s geht gleich zum Amok. Und die Schnodderschauze von Klein-Ekel Vernon Fäkalsprachen Gregory Little, wie ein männlicher Nachfahre der von Raimond Queneau verewigten Monster-Göre Zazie-mon-cul, so richtig zum Liebhaben ist dieses halbwüchsige Früchtchen wahrlich nicht. Und ganz so fremd ist Vernon Leckmich Gregory Little, der in seinem Kleiderschrank eine Sammlung von Behindertenpornos neben Rauschmittelpäckchen versteckt hat und stets die Wirklichkeit mit irgendwelchen Movieszenen vergleichen muß, um sich als Connaisseur des Hollywood-Universums zu beweisen, wirklich fremd ist ihm wahrlich die Medienmaschine nicht, die nun plötzlich leibhaftig als überdimensionaler Menschenfresser samt Beleuchtern und Ton-Männern in Martirio-Texas auftaucht, dem Ort des neuesten Massakers, um die Nation mit Bildern direkt vom Geschehen auf dem Laufenden zu halten; Vernon Gregory Little wird schnell und ohne größere Anpassungsleistung zum idealen Medienstar; in dieser Welt voller Ekelpakete und Jammerlappen ist Vernon als mutmaßlicher jugendlicher Massenmördershelfer das willkommene Objekt öffentlicher Begierde, und für ihn selbst stellt sich rasch die Frage, von der sein Leben abzuhängen beginnt, ob es noch eine wirklich wirkliche Welt gibt neben dem Fernsehen oder ob – wirklich – alles nur Simulation ist. Ob und wenn nun Vernon Gregory Little möglicherweise eine junge Frau wäre und England hieße, und die Green Line von Stephen King vielleicht nahe bei Bagdad läge, oder Hannibal Lester als kollektive Phantasie und ultimativer Kick, zum Beispiel als Menschenfresser von Fulda, durch die medienverseuchten Gehirne browserte, die Ursache von allem und jedem, wozu junge Amerikaner (und Erfurter und Glasgower und Bonameser und…) imstande sind, so lautet die gleich zu Anfang geäußerte Quintessenz des Romans von DBC Pierre: alles ist besser als dieses Scheißleben, Hauptsache, es passiert was, egal was… und wenn ich in der Green-Mile (dem Todestrakt) lande, und es mich Kopf und Kragen kostet, immerhin, ich werde wenigstens (erstmals in meinem Leben) überhaupt wahrgenommen; je schlimmer, je ekelhafter und möglicherweise auch noch blutrünstiger,umso besser; umso sicherer, daß Vernon Daisy-Duck-England Gregory Little in den Fernsehnachrichten an erster Stelle kommt – die endgültige Erfüllung des Real American Dream: I wanna be – Bush’ys Girl, I wanna be… In einer Gesellschaft im Zustand der psychosozialen Verwahrlosung, die man Spätkapitalismus zu nennen verlernt hat, bleibt als letzter Beweis der wirklich eigenen Existenz nur noch das Zuschauen bei der eigenen Hinrichtung im Fernsehen. DBC Pierre, der Autor, meinte sinngemäß (Wo? Na wo schon, im Fernsehen natürlich, drittes Programm, nach elf, Literatursendung), er habe rund um den einen Satz (vom Scheißleben) einen Roman rausgekotzt, und seitdem sei ihm wohler. Denn er sagt, was ihm ein zum Tode Verurteilter als quasi letzten Rat mitgibt: du mußt ihnen sagen, was sie hören wollen, und genau das, was sie hören wollen, ist: blood, drug and fuck’an’roll. Amerika, diese zutiefst unglückliche Nation, ist an der Frustrationsoberfläche der Burger-Kultur seelisch geborsten. Steht da wie schweigsam belämmert, mit fettigen Fingern und Mayo- und Ketschup- Flecken auf dem verschwitzten Hawaii-Hemd, und ins Gesicht geschrieben scheint ihm die hochnotpeinliche Frage: Komm ich jetzt ins FEEERNSEHN? Und was diesem ewigen Bumskopp zu seinem Unglück noch fehlt ist die zentrale Demütigung, die sich alle herbeizusehnen scheinen, damit sie endlich einen Grund haben, den Rest der Welt ihrerseits demütigen zu dürfen, wie es zu Hause nur die Lehrer und die Psychodoktoren mit den von ihnen abhängigen Kindern tun dürfen: an hilflos Gefesselten sexuellen Mißbrauch zu treiben. Am liebsten noch von hinten. Und damit diese endlose Wut im Bauch, die in der Trost- und Geistlosigkeit der Vorstädte sich einnistet und wuchert, endlich auf den Rest der Menschheit ohne Skrupel losgelassen werden darf, braucht es nur die Initialzündung, mit zwei fliegenden Phallussymbolen direkt hinein zwischen die Twin-Towers, sozusagen die Arschbacken der Nation. By the way: Spannend wird “Jesus von Texas” von DBC Pierre am Ende auch noch. Garstig Buch, lesenswert. Heipe Weiss, Frankfurt