Zum Buch:
Florian Herscht aus Kana in in Thüringen, Postleitzahl 07769, wendet sich etwa im Jahr 2018 vertrauensvoll an die Kanzlerin: In einem Abendkurs der Volkshochschule über „Die wunderbare Welt der Elementarteilchen“ habe er die grundsätzliche, existenzielle Instabilität des Universums erkannt. Der Zufall, der nach dem Urknall zur Entstehung desselben geführt habe, könne sich jederzeit und ohne jede Vorwarnung in sein Gegenteil verkehren und die Antimaterie so die Überhand über die Materie gewinnen. Die Kanzlerin als ausgebildete Physikerin, so seine Hoffnung, werde, sobald auch sie dieses begriffen habe, keinen Moment zögern und den internationalen Sicherheitsrat einberufen. Schon hier spielt der Ungar Krasznahorkai mit einer ganzen Bandbreite von Anspielungen und Symbolen der politischen Gegenwart Deutschlands und der gesamten westlichen Welt. Nicht nur, dass die auf das gröbste vereinfachten und falschen Schlüsse Florians an die Dynamik und Ideen von Verschwörungstheorien erinnern, sein Vertrauen in das Handeln der Weltpolitik ist zugleich auch ein ironischer Kommentar zum von rechter Seite in Anschlag gebrachten verlorenen Vertrauen in die Regierung und ein Gegenmodell zur Selbstermächtigung faschistischer Gruppen.
Die Repräsentanten dieser Haltung sind eine Handvoll Nazis, die sich um den „Boss“ versammeln; die Anschläge des NSU, die im Roman nur angedeutet werden, werden von ihnen als neumodische und öffentlichkeitsheischende PR-Aktion abgetan; man müsse das große Ganze im Blick behalten und sich wieder auf die Juden konzentrieren, fordert der Boss. Was genau sie darunter verstehen sollen, wissen sie allerdings selbst nicht so genau – das große Ganze scheint sich auch beim Boss insbesondere auf einen Juden aus der Nachbarschaft zu beziehen. Auf dieser Ebene entwickelt der Roman über gut zwei Drittel ein provinzielles Panorama, das nicht ohne Humor die verschiedensten Bewohner Kanas vorstellt und ihre Beziehungen untereinander entfaltet. Es fehlte nicht viel, und die neonazistischen Tendenzen erschienen als nur eine von vielen Schrullen und dörflichen Eigenheiten. Zentrum dieses Panoramas bleibt aber Florian Herscht, der vor den rechtsradikalen Abgründen seines Mentors so gut es geht die Augen verschließt und in ihm nichts anderes als seinen wohlwollenden Fürsprecher erkennen will (und sich auch darin als Verkörperung der gegenwärtigen Gesellschaft erweist) und sich schließlich nichts mehr wünscht, als sich mit seinen Freunden in Kana, dem Physiklehrer Köhler, der Bibliothekarin Frau Ringer und der Café-Besitzerin Frau Hopf endlich zu vertragen. Florian Herscht, entworfen als erwachsenes, ebenso naives wie harmoniebedürftiges Kind, ist mit seinen endzeitlichen Visionen allerdings klüger, als er selbst denkt, sind sie doch seismographische Anzeichen dafür, dass er sich der Instabilität seiner Umgebung wesentlich deutlicher bewusst ist, als er sich selbst eingesteht. Die Katastrophe, die unweigerlich eintritt, erscheint entsprechend nur deshalb so unvermittelt, weil die Verdrängungsmechanismen sich als wirksam und fast lückenlos erweisen. Was auf die Katastrophe folgt, ist der heimliche Höhepunkt des Romans, über den man allerdings nichts verraten kann, ohne zu viel zu sagen.
Krasznahorkai ist ein herausragender Stilist: Der ohne Punkte verfasste Roman spiegelt die interpersonelle Struktur der Provinzstadt. Die Übersetzung von Heike Flemming ist auch deswegen in besonderem Maße zu loben, weil sie den Fluss des Textes so gut wiedergibt. Man kann den fließenden Text des Romans also auch als semantische Metapher des Alltags ansehen, in dem entscheidende Ereignisse und Einschnitte nicht aus eigener Kraft hervorstechen und unterzugehen oder überlesen zu werden drohen.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt