Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Houellebecq, Michel

Die Möglichkeit einer Insel

Untertitel
Roman. Aus d. Französ. v. Uli Wittmann
Beschreibung

Michel Houellebecqs mit Spannung erwarteter neuer Roman Die Möglichkeit einer Insel entwirft radikal unsere Zukunft: Drastisch konfrontiert er Menschheitsentwürfe. Michel Houllebecqs Prosa ist voll visionärer Kraft, eine Abrechnung mit unserer heutigen Gesellschaft, wie sie endgültiger kaum sein kann. “Willkommen im ewigen Leben, meine Freunde.”

Verlag
DuMont Literatur und Kunst, 2005
Format
Gebunden
Seiten
445 Seiten
ISBN/EAN
978-3-8321-7928-1
Preis
24,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Leseprobe (Auszug)

Daniel24,4

Dieser Teil von Daniels Bericht ist für uns vermutlich ziemlich schwer verständlich. Die Videokassetten, auf die er sich bezieht, sind übertragen und seinem Lebensbericht als Anhang beigefügt worden. Ich habe diese Dokumente manchmal zu Rate gezogen. Da ich, genetisch gesehen, von Daniel1 abstamme, habe ich natürlich die gleichen Züge, das gleiche Gesicht; auch die Mimik (obwohl ich in einer nicht sozial geprägten Umgebung lebe, und meine Mimik daher natürlich begrenzter ist) ist im wesentlichen die gleiche; aber diese urplötzliche, von einem spezifischen Glucksen begleitete Verzerrung des Gesichtsausdrucks, die er Lachen nannte, kann ich nicht nachvollziehen; ich kann mir nicht einmal dessen Mechanismus vorstellen.
Die Aufzeichnungen meiner Vorgänger, von Daniel2 bis Daniel23, bezeugen im großen und ganzen das gleiche Unverständnis angesichts dieses Phänomens. Daniel2 und Daniel3 behaupten, daß sie noch imstande sind, unter Einfluß gewisser Getränke die Sache zu reproduzieren; aber für Daniel4 handelt es sich bereits um etwas Unzugängliches. Es gibt mehrere Untersuchungen über das Verschwinden des Lachens beim Neo-Menschen; alle stimmen darin überein, daß es sehr schnell erfolgt ist.

Eine ähnliche Entwicklung, auch wenn sie sich langsamer vollzog, hat man in bezug auf die Tränen beobachten können, ein weiteres Charakteristikum des Menschengeschlechts. Daniel9 bezeugt, daß er bei einer ganz bestimmten Gelegenheit geweint hat (beim Unfalltod seines Hundes Fox, der bei der Berührung des Elektrozauns einen tödlichen Schlag bekam); ab Daniel10 ist davon nicht mehr die Rede. Ebenso wie Daniel1 das Lachen zu Recht als symptomatisch für die menschliche Grausamkeit betrachtet, scheinen die Tränen bei dieser Spezies mit dem Mitleid verbunden zu sein. Man vergießt nie Tränen ausschließlich über sich selbst, hat ein anonymer Autor des Menschengeschlechts irgendwo geschrieben. Grausamkeit und Mitleid sind zwei Gefühle, die natürlich unter den Bedingungen absoluter Einsamkeit, unter denen sich unser Leben abspielt, kaum noch Sinn haben. Einige meiner Vorgänger wie etwa Daniel13 drücken in ihrem Kommentar eine seltsame Nostalgie über diesen doppelten Verlust aus; doch dann verschwindet auch diese Nostalgie und läßt nur eine Neugier zurück, die immer sporadischer wird; heute kann man sagen, daß sie, wie alle meine Kontakte in unserem Netz bezeugen, praktisch erloschen ist. Daniel1,5

Isabelle arbeitete noch drei Monate, ehe ihre Kündigung wirksam wurde, und die letzte Nummer von Lolita, die unter ihrer Leitung entstand, erschien im Dezember. Bei dieser Gelegenheit wurde in den Büros der Zeitschrift eine kleine Abschiedsfete, genauer gesagt ein Cocktail, für sie veranstaltet. Die Atmosphäre war ein wenig gespannt, da sich alle Teilnehmer dieselbe Frage stellten, ohne daß jemand sie auszusprechen wagte: Wer würde sie als Chefredakteurin ersetzen? Lajoinie tauchte kurz auf, aß drei Blinis und ging nach einer Viertelstunde wieder, ohne einen Hinweis zu geben.
Wir fuhren am Tag vor Weihnachten nach Andalusien; dann folgten drei seltsame Monate, die wir in fast völliger Einsamkeit verbrachten. Unser neues Haus lag etwas südlich von San José in der Nähe der Playa de Monsul. Riesige Granitblöcke umgaben den Strand. Mein Agent hielt es für eine ausgezeichnete Idee, daß ich mich für eine Weile vom Showgeschäft zurückzog; er meinte, es sei gut, ein bißchen Abstand zu gewinnen, um die Neugier des Publikums zu reizen; ich wußte nicht recht, wie ich ihm beibringen sollte, daß ich die Absicht hatte auszusteigen.
Er war praktisch der einzige, der meine Telefonnummer hatte; ich kann nicht sagen, ich hätte in den Jahren meines beruflichen Erfolgs viele Freunde gewonnen; verloren dagegen hatte ich eine ganze Reihe. Es gibt kein besseres Mittel, sich die letzten Illusionen über die Menschheit nehmen zu lassen, als in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen; dann sieht man, wie sie ankommen, die scheinheiligen Geier. Aber damit sich einem die Augen öffnen können, ist es unerläßlich, dieses Geld auch wirklich zu verdienen.