Zum Buch:
Hamburg Anfang der 50er Jahre. Die Stadt und ihre Bewohner sind vom Krieg gezeichnet; Kriegskrüppel und Ruinen prägen das Stadtbild, eine Selbstverständlichkeit für Kinder wie Jula, die nie etwas anderes kennengelernt haben. Aufregend die Sprengungen der zerbombten Häuserblocks, die Platz für den Aufbau neuer Wohnungen machen sollen, aufregend auch all die Glücksritter und Träumer auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Aufregend und rätselhaft zugleich das Leben der Erwachsenen, mit dem die kleine Jula bei der Großmutter konfrontiert ist. Denn in der Wohnung lebt nicht nur die Großmutter, sondern auch ihr jüngster Sohn, allerdings strikt getrennt und in grimmigem, hasserfülltem Schweigen. Dabei ist der charmante Hans für Jula ein wunderbarer Onkel, der sie auf den Schrank stellt und in seine Arme springen lässt, mit ihr lacht und sie mitnimmt zu seinem „Platz“, wo er Gebrauchtwagen verkauft. Dort lernt sie alles über Autos, zunächst über die alten Lloyds und Goliaths, später über „Amischlitten“ , für die sich vor allem das „Rotlichtgesindel“, die Schieber und Zuhälter interessierten. Und über die Kunden: die „Probepisser“, die nur mal Probefahren und Gucken wollen, die ernsthaften Interessenten und die schwarzen GIs, die ohne Beratung Bargeld aus der Tasche ziehen und mit dem Auto ihrer Wahl wegfahren. Sie lernt die Freunde des Onkels kennen, die seltsame Namen tragen wie Schuten-Ede, Trümmer-Otto und Ingemusch. Die nehmen sie mit auf die Reeperbahn, in schummrige Kneipen, wo die Musikbox La Paloma von Hans Albers spielt. Onkel Hans führt sie in die Geheimnisse der Zahlen und Buchstaben ein; sie lernt, „mit Zahlen zu schreiben und mit Buchstaben zu rechnen“, und träumt davon, „Flittchen“ zu werden wie Ingemusch, weil sie das Wort so schön findet. Zu Hause sucht sie mit der Großmutter auf dem Globus die Orte, von denen der Vater ihnen Ansichtskarten schickt, rätselt über geheimnisvolle Geschichten aus 1001 Nacht, und dolmetscht und vermittelt geschickt zwischen den beiden Erwachsenen, die sich aus dem Weg gehen und nicht miteinander sprechen. Sie ist glücklich und aufgehoben in diesem Leben – bis nach acht Jahren der Vater zurückkommt und aus der jetzt 12jährigen „versauten Göre“ eine „höhere Tochter“ machen will. Jula hat keine Wahl – und muss sich jetzt in einer neuen Welt einrichten, ohne die alte aufzugeben …
Monika Held gelingt es durch ihre so genaue wie poetische Sprache, den Lesern eine Nachkriegskindheit im fast nur noch verkitscht dargestellten Hamburger Hafenmilieu nahezubringen. Ihre Schieber, Schlepper und Huren haben zwar das sprichwörtliche „goldene Herz“, aber es sind reale Personen, vom Leben und vom Krieg gezeichnet, verbunden durch gemeinsame und oft traumatische Erfahrungen. Die leitmotivisch eingesetzten Rituale der Kindheit – die Geschichten der Großmutter, der Wellensittich Hansi, die exotischen Ansichtskarten, die Zahlenspiele und die Magie der Wörter und Zahlen – verleihen dem Roman einen ganz eigenen sprachlichen Zauber, der einen von Anfang an in Bann zieht und bis zum Ende nicht mehr loslässt. „Trümmergöre“ ist ein meisterhafter, berührender Roman über eine Vergangenheit, die weiter wirkt – in den Häusern, den Städten und in den Menschen.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main