Zum Buch:
1947 ist der spanische Bürgerkrieg offiziell seit acht Jahren beendet, aber in Fuensanta de Martos, dem gottverlassenen Dorf in den Bergen Andalusiens, tobt er unerbittlich weiter. Die Partisanen aus dem Gebirge überfallen offizielle und private Geldtransporte und verschenken die Beute an die reichlich vorhandenen Armen, nicht ohne die Scheine vorher mit ihrer Unterschrift zu versehen, um klar zu machen, woher der Geldsegen stammt. Guardia Civil und Militär rächen sich mit Razzien, willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord, was wiederum weitere Dorfbewohner zu den Partisanen in die Berge treibt – ein ewiger Kreislauf, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Für die Kinder in Fuensanta de Martos ist dieser endlose Krieg Normalität. Wenn ihre Mütter sie von der Straße holen und im Hof oder im Haus einsperren, dann wissen sie, dass die Partisanen irgendwo wieder zugeschlagen haben und eine neue Razzia bevorsteht. Das gilt besonders für den neunjährigen Nino, der in der Kaserne der Guardia Civil aufwächst, wo sein Vater arbeitet. Im Dorf gilt es als selbstverständlich, dass auch er später Polizist werden wird, aber er selbst will das auf keinen Fall, trotz der damit verbundenen Privilegien wie den kostenlosen Kinobesuchen und den Freiplätzen beim Stierkampf. Er will lieber so leben wie sein erwachsener Freund Pepe, der allgemein nur der Portugiese genannt wird: allein in einer alten Mühle, jagen und fischen, baden, wenn ihm danach ist, und vor allem lesen. Denn Pepe leiht ihm Bücher, die ihm ganz andere Welten eröffnen als die Cowboyheftchen, die er von Zeit zu Zeit seinem Schulfreund klaut. Begeistert liest er sich durch die klassischen Abenteuergeschichten und vor allem durch das Gesamtwerk von Jules Verne, das ihm allmählich einen ganz anderen Blick auf die brutalen, chaotischen Zustände seiner Alltagswelt ermöglicht. Nino lernt, die Gegebenheiten zu hinterfragen und sich seinen eigenen Reim auf die politische Situation zu machen. Aber immer wieder muss er feststellen, dass der Schein trügt, dass die Menschen, die er so gut zu kennen glaubt, Geschichten, Erfahrungen und Haltungen haben, von denen er nichts geahnt hat. Und als er sich am Ende entscheiden muss, kann er sich nur auf sich und sein Gefühl verlassen.
„Der Feind meines Vaters“ ist ein so großartiges wie erschütterndes Buch. Erschütternd die Alltäglichkeit der Brutalitäten des anhaltenden „Krieges nach dem Krieg“ in den Augen eines Kindes, das nichts anderes kennt; großartig die Differenziertheit, mit der die Autorin die Komplexität einer Situation vermittelt, in der sich die Handlungsmöglichkeiten im Alltag vielfach nur auf stummen Protest beschränken, etwa wenn die Mutter eines als Partisan erschossenen 17-jährigen am Nationalfeiertag statt der geforderten Fähnchen ihre schwarze Kleidung auf die Leine hängt und der Zeremonie mit verschränkten Armen und glühendem Blick bewegungslos zuschaut oder der geheimnisvolle Pepe Nino erklärt, warum sich sein Vater der Guardia Civil angeschlossen hat. In diesem Buch ist nichts eindeutig, weil in einer stets lebensgefährlichen Zeit die Grenzen zwischen Gut und Böse, Verrat und Freundschaft, Schuld und Unschuld immer wieder neu gezogen werden müssen. Das einzige, woran sich nicht nur die Kinder orientieren können, bleibt die Freundschaft und die Loyalität zu den Freunden – und wie sich zeigt, ist das genug.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main