Zum Buch:
Ein berührendes, sehr einfühlsames und dabei ruhiges und reflexives Buch hat Arno Geiger über die Demenz-Erkrankung seines Vaters geschrieben. Er gibt darin einiges preis aus der Geigerschen Familiengeschichte, aber nie hatte ich den Eindruck, als Leser dieser privaten Details zum unfreiwilligen Voyeur zu werden. Dies verhindert die teils distanzierte und dennoch liebe- und verständnisvolle Annäherung des Sohnes an den Vater, an der er uns durch die Schilderungen von dessen Krankheitsgeschichte über viele Jahre teilhaben lässt.
“Es war spürbar, wie sehr die seit meiner Jugend gewachsene Distanz zwischen dem Vater und mir kleiner wurde, und auch der von der Krankheit aufgezwungene Kontaktverlust, den ich seit längerer Zeit befürchtet hatte, trat nicht ein. Statt dessen freundeten wir uns nochmals an mit einer Unbefangenheit, die wir der Krankheit und dem Vergessen zu verdanken hatten; hier war mir das Vergessen willkommen.”
Wohl schon Mitte der 1990er Jahre bricht bei August Geiger die Krankheit aus. Zu Beginn von allen Familienmitgliedern für eine Spielart des Altersstarrsinns, gepaart mit zunehmender Interesselosigkeit und Schusseligkeit, gehalten, dauert es noch einige Jahre, bis die Demenz als solche erkannt und ernst genommen wird und die medizinischen Behandlungen, noch später dann die Betreuung des Vaters durch Pflegepersonal beginnen.
“Die Einsicht in den wahren Sachverhalt bedeutete für alle eine Erleichterung. Jetzt gab es für das Chaos der zurückliegenden Jahre eine Erklärung, die wir akzeptieren konnten, wir fühlten uns nicht mehr so am Boden zerstört. Nur die Einsicht, dass wir viel zu viel Zeit damit vergeudet hatten, gegen ein Phantom anzukämpfen, war bitter – Zeit, die wir tausendmal sinnvoller hätten nutzen sollen. Wenn wir klüger, aufmerksamer und interessierter gewesen wären, hätten wir nicht nur dem Vater, sondern auch uns selber vieles ersparen, und vor allem hätten wir besser auf ihn aufpassen und noch rasch einige Fragen stellen können.”
Die Krankheit hat verschiedene Phasen, die Geiger anschaulich und nachvollziehbar beschreibt. Dabei gelingt es ihm, sich selbst und damit auch den LeserInnen die Krankheit ein Stück weit zu erklären, sie etwas begreifbarer zu machen. Überhaupt ist das ganze Buch durchzogen vom Wunsch zu verstehen, seien es die Motive des väterlichen Verhaltens in der Vergangenheit oder dessen momentanen Zustand; und das eigene Verhalten noch dazu.
“Oft heißt es, an Demenz erkrankte Menschen seien wie kleine Kinder – kaum ein Text zum Thema, der auf diese Metapher verzichtet; und das ist ärgerlich. Denn ein erwachsener Mensch kann sich unmöglich zu einem Kind zurückentwickeln, da es zum Wesen des Kindes gehört, dass es sich nach vorne entwickelt. Kinder erwerben Fähigkeiten, Demenzkranke verlieren Fähigkeiten. Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust.”
Wer sich bereits mit dem Thema beschäftigt oder Umgang mit dementen Menschen hat, wird feststellen, wie gut, wichtig und richtig, aber auch wie tröstlich und hilfreich das Buch ist. Denn Verständnis und Beistand für die Erkrankten, sowohl von Seiten der Angehörigen als auch von der des Pflegepersonals, sind wahrscheinlich die besten Möglichkeiten, mit der Krankheit umzugehen – und leider längst nicht der Regelfall.
Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen& Café