Zum Buch:
Es ist erstaunlich, wie viele seit Jahren vergessene Autoren und Werke es immer wieder zu entdecken gibt. Hier ist es der russische Autor Gaito Gasdanow, dessen 1947 in Frankreich auf Russisch erschienener Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“ erst jetzt in deutscher Sprache vorliegt. Der 1903 in St. Petersburg geborene Autor lebte seit 1923 im Exil in Paris, und im Exilantenmilieu spielt auch sein Roman.
„Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich je begangen habe“. Mit diesem Satz beginnt das Buch. Das gesamte Leben des Ich-Erzählers kreist um diese Schlüsselszene, als er, sechzehnjährig, während des russischen Bürgerkriegs mit zwei Schüssen einen Reiter tötete und mit dessen weißem Pferd flüchtete. Als hätte diese Tat nicht nur den anderen, sondern auch im eigenen Inneren etwas getötet, lebt er seitdem ein eher schales Leben, arbeitet in Paris lustlos als Journalist, hat belanglose Affairen und spürt eine zunehmende Sinnlosigkeit. Dann fällt ihm der Erzählungsband des englischen Autors Alexander Wolf in die Hände, und in der Geschichte „Adventures in the Steppe“ findet er sein Erlebnis im Bürgerkrieg in allen Einzelheiten beschrieben. Fieberhaft beginnt er, nach dem Autor zu forschen, in dem er den Reiter auf dem weißen Pferd vermutet – allerdings ohne Ergebnis.
Kurz darauf begegnet er in Paris bei einem Boxkampf Jelena, der ersten Frau, die nicht nur seine Sinne, sondern auch sein Herz berührt, und damit verliert alles andere vorerst an Bedeutung. Auch Jelena scheint eine Leerstelle in ihrem Inneren zu haben, und es ist gerade diese seltsame Abwesenheit, die den Erzähler an ihr fasziniert. Dann erzählt ihm ein flüchtiger Bekannter, auch er ein Russe, er habe Alexander Wolf im Bürgerkrieg halbtot aufgelesen und gesund gepflegt …
Mehr von der Handlung sei hier nicht erzählt, schon gar nicht der überraschende Schluss. Das folgende Geschehen läuft ab, wie von einer rätselhaften Schicksalsmechanik getrieben. Eins greift ins andere, und alles, was sich ereignet, wird durch den Spiegel der Erinnerung gesehen, der zunehmend blinder zu werden scheint. Jede Situation ist wie ein Vexierbild, sie kann das eine, aber auch das andere bedeuten; alles Geschehene wird gedeutet und umgedeutet.
Gaito Gasdanow ist ein großartiger Erzähler. Sein Stil ist schlank, klar und elegant. Er spürt den Gedanken und Empfindungen seines Protagonisten bis in die feinsten Verästelungen nach und ist doch kein allwissender Erzähler. Es ist ein bisschen wie bei Henri James‘ „The Turn of the Screw“: alles geht immer noch eine Umdrehung weiter, aber es gibt kein Ankommen in irgendeiner Wahrheit. Das liest sich fesselnd wie ein Krimi – und ist doch ungleich vielschichtiger. Ein großartiges Buch!
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt