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Autor
Roth, Karl Heinz; Abraham, Jan-Peter

Reemtsma auf der Krim

Untertitel
Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944
Beschreibung

Mit dem Buch „Reemtsma auf der Krim“ ist Karl-Heinz Roth und Jan-Peter Abraham in 12-jähriger akribischer Arbeit ein großer Wurf gelungen – ein Meisterwerk in dreifacher Hinsicht. Das Buch bietet – erstens – eine präzise Darstellung des Engagements des Reemtsma-Konzerns auf der Krim. Es handelt sich – zweitens – um eine souveräne Gesamtgeschichte der Krim zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Ende der deutschen Okkupation im April/Mai 1944. Drittens wird die Perspektive von oben durch Interviews mit Zeitzeugen und persönlichen Berichten ergänzt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Edition Nautilus, 2011
Format
Gebunden
Seiten
576 Seiten
ISBN/EAN
978-3-89401-745-3
Preis
39,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Dr. Dr. Karl Heinz Roth, geb. 1942. Studium der Medizin und Geschichtswissenschaft. Mitbegründer der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und der Zeitschrift 1999 im Jahr 1986. Lebt seit 1998 in Bremen. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zur Sozial-, Wirtschafts-, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Jan-Peter Abraham, geb. 1967. Studium der Sprachlehrforschung und der Slawistik. 1995–1996 Tätigkeit in Vilnius (Litauen) für das Institut für Auslandsbeziehungen ifa, 1999–2004 Lektor des DAAD in Charkiv (Ukraine), 2006–2011 in Chişinău (Moldau). Diverse Buchübersetzungen aus dem Russischen und Tschechischen.

Zum Buch:

Mit dem Buch „Reemtsma auf der Krim“ ist Karl-Heinz Roth und Jan-Peter Abraham in 12-jähriger akribischer Arbeit ein großer Wurf gelungen – ein Meisterwerk in dreifacher Hinsicht. Das Buch bietet – erstens – eine präzise Darstellung des Engagements des Reemtsma-Konzerns auf der Krim. Es handelt sich – zweitens – um eine souveräne Gesamtgeschichte der Krim zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Ende der deutschen Okkupation im April/Mai 1944. Drittens wird die Perspektive von oben durch Interviews mit Zeitzeugen und persönlichen Berichten ergänzt.

Die Brüder Alwin F., Hermann F. und Philipp F. Reemtsma besaßen zusammen mit den Brinkmann-Tabakfabriken zwar ein de-facto-Monopol in der Zigarettenindustrie, hatten jedoch schon vor Kriegsbeginn Probleme. In der NSDAP tobte ein Kampf zwischen Anhängern und Gegnern eines staatlichen Tabakmonopols. Mit dem Hinweis auf nikotinarme Orientzigaretten war der Offensive des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti so wenig beizukommen wie mit Propagandaschriften aus dem Tabakwissenschaftlichen Institut in Bremen, das die Zigarettenindustrie finanzierte. Ph. F. Reemtsma verlegte sich auf eine Strategie der Diversifizierung und investierte in neue Geschäftsbereiche (Seeschifffahrt, Holz, Lebensmittel, Erdöl) mit dem Ziel, einen integrierten Rohstoff- und Konsumgüterkonzern zu errichten. Er hatte enge Beziehungen zu Hermann Göring und pflegte diese mit Geschenken – seit 1934 im Umfang von 12 Millionen RM.

Auch sein Bruder Alwin F. Reemtsma behielt die politische Landschaft im Auge und pendelte zwischen seinem Kontor und seiner Tätigkeit als Referent im Stab des Höheren SS- und Polizeiführers Hans Adolf Prützmann. Der agierte zunächst in Hamburg, dann in Königsberg und später in der Ukraine. A. F. Reemtsma war als einziger Großindustrieller direkt in die Aktivitäten der Einsatzgruppe A unter Rudolf Lange und in die Planung und Errichtung des Konzentrationslagers Salaspil bei Riga involviert.

Wie auf fast allen Gebieten gingen die Meinungen, was den eroberten Gebieten im Osten passieren sollte, innerhalb der Führungszirkel weit auseinander. Im Auswärtigen Amt, im Reichsministerium für besetzte Gebiete, in der Wehrmacht und der SS sowie im Reichskommissariat für die Ukraine schrieb man die Kriegszieldiskussion fort, die schon 1916 begonnen hatte. Die einen sahen in den besetzten Gebieten Rohstofflager, andere plädierten für beschränkte Autonomie oder Kolonisierung des „Heloten-Volks“ zwischen Ukraine und Kaukasus. Im Rüstungsamt sah man den Osten als Arbeitskräftereservoir. Hitler selbst wollte die Krim „von allen Fremden räumen“ und „deutsch besiedeln“. Während Pläne und Projekte ins Kraut schossen, handelten die Interessenten.

Nach Kriegsbeginn wurde die Versorgung des Reemtsma-Konzerns mit Orienttabak prekär. Die Augen der Strategen fielen auf die Tabakanbaugebiete im Nordkaukasus und auf der Krim. Zunächst besetzte der Reemtsma-Konzern alle für Tabak zuständigen Stellen im Wirtschaftsstab Ost mit seinen Leuten. In der ersten Phase setzte der Konzern bloß auf die Plünderung der Tabakvorräte. Das änderte sich bald.

Dieser Raub geschah mit Unterstützung der Wehrmacht, die bei der Eroberung der Krim gnadenlos operierte. Die 11. Armee führte ihren Krieg nicht nur gegen die Rote Armee und Partisanen, sondern vom ersten Tag an auch gegen “das jüdisch-bolschewistische System”. Kaum war die Halbinsel erobert, herrschten Hungersnot und Massenterror – eine „extrem gewalttätige Okkupationsherrschaft“ mit Massenerschießungen und dem Einsatz von Gaswagen begann.

Die Manager und Fachleute des Reemtsma-Konzerns wollten jedoch nicht nur rauben und morden lassen, sondern hatten langfristige Pläne zur tabakwirtschaftlichen Ausbeutung von Bevölkerung, Land und Infrastruktur in einem geordneten System von der Aussaat über die Ernte bis zur fabrikmäßigen Fermentierung von Tabak und Zigarettenherstellung. Ohne die Zusammenarbeit mit kollaborationswilligen sowjetischen Experten war das nicht zu schaffen. Dennoch erfüllten sich die Erwartungen in der Besatzungszeit von September 1941 bis April 1944 nicht. Aber Anfangserfolge gab es schon dank der Kooperation mit der Wehrmacht, paramilitärischen Verbänden und des durch Terror disziplinierten Bevölkerung.

Reemtsmas 30 000 tatarische Arbeiterinnen und Arbeiter – fast nur Frauen und Jugendliche – erhielten, außer Naturallohn, gar nichts. Stalin ließ die Krimtataren 1944 als Kollaborateure deportieren. Erst der Reemtsma-Erbe Jan Philipp wurde seiner Verantwortung gerecht und entschädigte die wenigen überlebenden Tabakarbeiterinnen und Tabakarbeiter.

Rudolf Walther, Frankfurt a. M.