Zum Buch:
Said Al-Wahid sitzt im Zug nach Berlin, als ihn ein Anruf seines Bruders aus Bagdad erreicht: Die Mutter liegt im Sterben; wenn er sie noch einmal sehen will, muss er sofort kommen. Der Anruf reißt ihn aus seinem Hochgefühl nach dem erfolgreichen Podiumsgespräch in Mainz, an dem er teilgenommen hat; kurzentschlossen bucht er per Handy einen Flug und fährt statt nach Berlin zu Frau und Kind zurück nach Frankfurt zum Flughafen. Glücklicherweise hat er seinen Pass dabei, wie immer, ob bei Podiumsgesprächen oder „im Supermarkt um die Ecke“. Denn „Said ist noch immer jemand, der der Welt nicht traut. In der Fremde gibt es keine Himmelsrichtungen. Das weiß er aus eigener Erfahrung.“ Eine Erfahrung, die ich als weiße Deutsche mit deutschem Namen und ohne Fluchtgeschichte nie machen musste, die mir nach der Lektüre dieses schmalen Buches aber schmerzhaft bewusst wurde.
Von diesen Erfahrungen – in Bagdad, auf der Flucht, im Dschungel des deutschen Asyl- und Ausländerrechts – berichtet Said knapp, lakonisch, gelegentlich ironisch und immer präzise. Anders ist es mit der Erinnerung. Kann man ihr trauen? War es ein alter oder ein junger Mann, der ihn zum Ausländeramt begleitet hat? Warum war sein Vater in Bagdad wirklich ums Leben gekommen? Hat seine Mutter, als er klein war, je mit ihm gespielt? Immer wieder tun sich Löcher in den Erinnerungen auf, fehlen Geräusche, Gerüche, Farben, aus denen sich ein Erinnerungsbild zusammensetzen ließe. „Sie sind durch ein Loch im Gedächtnis verloren gegangen, unauffindbar.“ Erst als er beschließt, sie zu erfinden – und damit zu „fälschen“ – ergibt sich eine Struktur für die eigene Lebensgeschichte.
Damit erübrigt sich auch die Frage, ob man das Buch als autobiographisches lesen sollte. Die geschilderten Erfahrungen mögen darauf verweisen, aber _Der Erinnerungsfälscher _öffnet eine andere Perspektive, nämlich die auf die Menschen, die diese und ähnliche Erfahrungen machen müssen, ohne sie wirklich teilen zu können, selbst nicht mit den Nächsten, denn „jeder schwebt mit seiner Welt durch eine eigene Galaxie, die dem anderen völlig fremd ist.“ Abbas Khider gelingt es, diese bittere Erfahrung zu vermitteln, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Anklage, sondern durch eine Sprache, die zunächst scheinbar einfach daherkommt, aber unter der Einfachheit einen Rhythmus und eine Poesie entfaltet, die den Text zum Leuchten bringt.
Irmgard Hölscher, Frankfut a. M.