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Autor
Grimbert, Philippe

Ein Geheimnis

Untertitel
Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Beschreibung

Philippe Grimberts preisgekrönter autobiographischer Roman, in Frankreich ein Bestseller, erzählt aus der Sicht eines Nachgeborenen die dramatische Geschichte einer jüdischen Familie – seiner Familie, in der den drängenden Gefühlen von Verlust und Schuld mit Anpassung und Schweigen begegnet wird.

Verlag
Suhrkamp, 2006
Format
Gebunden
Seiten
154 Seiten
ISBN/EAN
978-3-518-41750-8
Preis
17,80 EUR

Zum Buch:

Im Zentrum von Grimberts Erzählung steht eine Tragödie von antiker Wucht, in der Leidenschaft und Schicksal vom Menschen Besitz ergreifen: Wir sind im Paris der 30er Jahre. Ein Mann, ein Ringer und Turner mit perfektem body, heiratet. Auf seinem Hochzeitsfest tauscht er einen Blick mit seiner Schwägerin – auch sie eine durchtrainierte Leichtathletin – und ist von ihrer Schönheit betört. Auch sie begehrt ihn sofort, rein und nackt, ohne Achtung oder zärtliche Gefühle. Vorerst jedoch verzichten die beiden. Der Mann wird Vater, seine zarte, sensible Frau verehrt ihn und wird eine überglückliche Mutter. Das könnte in normaleren Zeiten vielleicht dauern, aber nun greift das Schicksal ein. Der Krieg befreit die Schwägerin von ihrem Mann. Die deutsche Besetzung treibt die Familie als Juden in die Flucht. Der Mann, in den Wirren vorübergehend von Frau und Kind getrennt, landet in den Armen seiner Schwägerin. Hannah aber, seine verratene Ehefrau, die ihren Bruder im Krieg, ihre Eltern in der Deportation und ihren Mann an ihre Schwägerin verloren hat, liefert sich und ihr achtjähriges Kind Simon den Deutschen aus: Medea im 20. Jahrhundert. Mutter und Sohn sterben in Auschwitz. Einige Zeit nach dem Krieg heiratet das perfekte Sportlerpaar Maxime und Tania. Aus ihrer Vereinigung geht ein Kind hervor: Der Erzähler dieser Geschichte. Und dieser Erzähler ist keine Erfindung. Er lebt und arbeitet als Psychoanalytiker in Paris. Wir haben es mit einem autobiographischen Text zu tun. Philippe Grimbert ist der Autor einiger Essays, „Un secret“ ist sein zweiter Roman: ein grossartiges Buch. Im Gegensatz zum antiken Theater werden wir in Grimberts Roman nicht unvermittelt mit der nackten Wahrheit konfrontiert, sondern erleben, wie die Familientragödie zuerst systematisch erhellt werden muss, weil sie vorher ebenso systematisch verdunkelt wurde. Und dann erfahren wir auch, welche Folgen die Ausleuchtung der Wahrheit hat. Drei dynamische Prozesse also bilden die Romanhandlung. Die schuldbeladene Familie hat das unerträgliche Geschehen verleugnet, beschönigt und verdrängt. Der Familienbande ist eine einzige Verschwörung des Schweigens und Lügens. Hannahs Aufopferung wird in der Familiensaga zum Irrtum und zur Unbedachtsamkeit verniedlicht. Vom Krieg bleibt nur die Idylle eines Zufluchtortes in der Provinz, von Hannah und Simon keine Spur. Um auch ihr Judentum loszuwerden, ändern Maxime und Tania ihren Namen: Die heilige Familie Grimbert scheint perfekt. Das Kind des Sportlerpaares aber, der Erzähler, ist ein schmächtiger, unterentwickelter Kümmerling, von Ängsten und Schuldgefühlen geplagt, ein Musterschüler und Bücherwurm. Den eigenen Körper hasst er, von den Körpern der anderen ist er fasziniert. Er erfindet sich einen Phantombruder, zuerst als Freund, dann als Tyrann und Gegner. Wie er diese Zeichen als Symptome lesen lernt und entdeckt, dass sein Phantombruder wirklich gelebt hat, ist ein von heftigen, wechselnden Gefühlen begleiteter Erkenntnisprozess, der uns je länger je mehr staunen lässt über das Geheimnis des psychischen Gedächtnisses, das Erinnerungen aufbewahren kann, die ausserhalb unseres Wissens und unserer Erfahrungsmöglichkeiten liegen. Die ganze Wahrheit erfährt der 15jährige Erzähler schliesslich von der alten Louise, die alles miterlebt hat. Sie ist die einzige Vertraute des Kindes, der Küchenstuhl in ihrer Praxis für „Häusliche Pflege, Injektionen, Massagen“ ist Grimberts erste Couch. Nach der Enthüllung, die Wirkung der Wahrheit: Der junge Mann wird kräftiger, löst sich von den Eltern, seine Albträume und Obsessionen verschwinden. Das Schweigen der Familie belastet ihn nicht mehr, bald kann er sogar mit seinen Eltern über fast die ganze Wahrheit sprechen. Er entdeckt die Psychoanalyse und erfindet Formen des Trauerns und Gedenkens – eine davon ist der Roman selbst. „Ein Geheimnis“ ist auch ein Hymnus auf die befreiende Kraft des Erzählens, die in schroffem Gegensatz zur Sprachlosigkeit des familiären Schweigens und des Begehrens steht. Grimberts erzählt knapp und einfach. 150 Seiten klare, verständliche, spannungsreiche Prosa. Die Bilder sind detailreich und konkret. Gestochen scharf wie auf einem Photo sehen wir die junge Tania im Badeanzug ihre Muskeln spannen, von der Brücke springen, eine perfekte Figur in die Luft zeichnen und ohne Spritzer ins Wasser abtauchen, bevor Maxime sie umarmt. Aber Achtung. Diese Konkretheit ist, ohne dass dies ausdrücklich gesagt werden müsste, überwölbt oder unterfüttert durch eine psychologische Eben mit reichen, symbolischen Bezügen. Viele Jahre später springt die alte, kranke Tania noch einmal, in den Armen ihres Mannes, diesmal vom Balkon in den Tod. Grimberts Menschenbild ist nicht naiv. Wenn der Junge die Holocaust-Film-Bilder geschundener, nackter Körper seinen Pubertätsphantasien unterwirft, so wird ein Tabu berührt – auf heilsame Weise. Grimberts Roman macht für uns erfahrbar, was Sophokles in seiner Antigone behauptet: „Ungeheuer ist viel. Nichts ungeheurer als der Mensch“. Aber Grimbert bietet auch eine Versöhnung an: Das Aussprechen.

Felix Schneider, Frankfurt am Main