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Autor
Glöckler, Ralph Roger

Der König in seinem Käfig

Untertitel
Roman
Beschreibung

Das Buch Daniel gehört wohl zu den bildmächtigsten Teilen der Bibel. Unzählige Male wurden die Episoden von der Schrift an der Wand oder Susanna im Bade in der Kunst und Literatur der vergangenen Jahrhunderte dargestellt und dabei immer wieder aktualisiert. Man könnte es daher vermessen nennen, dass Ralph Roger Glöckler in seinem jüngsten Roman Der König in seinem Käfig eine weitere Version dieses Stoffs gestaltet. Um Überbietung geht es ihm dabei aber gar nicht, eher um eine Befragung der biblischen Erzählung. Welche Rolle kann so etwas wie Prophetie heute eigentlich noch spielen?
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Kulturmaschinen Verlag, 2023
Format
Gebunden
Seiten
167 Seiten
ISBN/EAN
978-3-96763-283-5
Preis
21,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Ralph Roger Glöckler, geboren 1950 in Frankfurt a. Main, studierte Romanistik, Germanistik und Völkerkunde in Tübingen. Er lebt als Übersetzer und Schriftsteller in Frankfurt und Lissabon, wo im Herbst 2000 sein Theaterstück “Perpetuum Mobile. Cantata” uraufgeführt wurde. Zu seinen bisherigen Veröffentlichungen gehören Erzählungen und Romane. 1984 erschien “Reise ins Licht” , 2007 “Madre. Eine Erzählung”, 2008 “Vulkanische Reise. Eine Azoren-Saga”, sowie 2012 Mr. Ives und die Vettern vierten Grades”.

Zum Buch:

Das Buch Daniel gehört wohl zu den bildmächtigsten Teilen der Bibel. Unzählige Male wurden die Episoden von der Schrift an der Wand oder Susanna im Bade in der Kunst und Literatur der vergangenen Jahrhunderte dargestellt und dabei immer wieder aktualisiert. Man könnte es daher vermessen nennen, dass Ralph Roger Glöckler in seinem jüngsten Roman Der König in seinem Käfig eine weitere Version dieses Stoffs gestaltet. Um Überbietung geht es ihm dabei aber gar nicht, eher um eine Befragung der biblischen Erzählung. Welche Rolle kann so etwas wie Prophetie heute eigentlich noch spielen?

Überraschend aktuell ist dieser Traumdeuter Daniel geraten im Angesicht einer dem Irrsinn verfallenden Welt: Glöckler versetzt die Geschichte in die Gegenwart eines totalitären, aber abgewirtschafteten Regimes. Anna, die Ziehtochter des Präsidenten, Gattin des Anwalts Maxim, der dem Regime dient, und Mutter eines Knaben, lebt in privilegierten Verhältnissen, weitgehend abgeschirmt von der sozialen Wirklichkeit. Aber sie stellt diese Verhältnisse in Frage, als sie eines Tages von einem Fremden vor einem tödlichen Unfall gerettet wird und dann unter merkwürdigen Umständen die Visitenkarte des Traumdeuters in ihrer Handtasche vorfindet. Viele Geschicke weben in dieser Erzählung nebeneinander: Zwei Geschäftspartner von Annas Gatten stellen der jungen, begehrenswerten Frau nach und verleumden sie gegenüber dem eifersüchtigen Maxim. Der Präsident, der sich mit seiner Entourage von der Wirklichkeit abkoppelt, wird von Untergangsvisionen geplagt. In dem Maße, wie er die Opposition mit immer drastischeren Maßnahmen unterdrücken und vernichten muss, um seine Macht zu erhalten, versinkt er immer tiefer im Wahnsinn. Anna selbst erfährt allmählich von den Verstrickungen Maxims in die Machenschaften des Regimes und schließlich auch die Wahrheit über ihre eigene Herkunft.

In dieser vielstimmigen Erzählung spielt Daniel eine verbindende und damit durchaus ambivalente Rolle, bleibt selbst aber eine unbestimmte Figur, die nur indirekt in Erscheinung tritt. Seine Traumdeutungen verbreitet er per E-Mail. Ob es ihn wirklich gibt, ist dabei von untergeordneter Bedeutung, denn er ist lediglich ein Medium, das Annas allmählichem Bewusstwerdungs- und Befreiungsprozess eine Sprache gibt. Glöckler erzählt, wenn man so will, mit der subjektiven Kamera und einer wortmächtigen, die Wahrnehmungen und Regungen seiner Protagonistin feinsinnig nachzeichnenden Sprache. Für dieses Ringen um eine komplexe, vielschichtige und eben nur subjektiv erfahrbare Wirklichkeit braucht er lange, verschachtelte, zu Assoziationen verkettete, mitunter kein Ende findende Sätze, die einen Sog entwickeln, dem man sich nicht mehr entziehen kann, wenn man sich nur einmal lesend und mitatmend auf diese Prosa eingelassen hat. Auf die Wahrheit, so erfahren wir aus dieser Art des Erzählens, gibt es mehr als nur eine Ansicht. Und auch, dass es ohne die Wahrheit keine Freiheit gibt.

Das Buch, bereits 2015 geschrieben, entfaltet eine geradezu gespenstische Aktualität, durch die die psychologische Studie zu einem eminent politischen Text wird – viel stärker, als der Autor das vermutlich beabsichtigt hat. Am Schluss stehen Anna und ihr Sohn vor einer Voliere mit einem beängstigenden Vogelwesen, das „Freude daran hat, andere mit dem Verenden zu erschrecken“ – noch einmal begegnen sie dem König in seinem Käfig, in einer verstörenden Vision, die nun uns selbst eine Deutung dieses Albtraums abverlangt.

Sven Limbeck, Wolfenbüttel