Zum Buch:
Sein wirklicher Name ist Antônio Francisco Bonfim Lopes, doch von allen, selbst von seiner Mutter, wird er nur Nem gerufen. Soeben hat er das steile Ende der Rua Um, der Straße Nummer eins, erreicht und gönnt sich eine kurze Atempause, um erneut die verzweifelte Lage zu überdenken, in der er steckt.
Nem ist vierundzwanzig. Er lebt in Rocinha, oberhalb von Rio de Janeiro, wo er sich mit der Mutter, seiner Frau und der drei Monate alten Tochter eine winzige, fensterlose Wohnung teilt, die diesen Namen nicht wirklich verdient. Rocinha ist mit Abstand die größte Favela Brasiliens und wird von einem Drogenkönig namens Lulu beherrscht, dessen Residenz sich ganz am Ende der Rua Um befindet.
Der Weg den Hang hinauf war kein leichter Entschluss für ihn, hatte er sich und damit auch seine Familie doch bisher aus dem Drogenmilieu heraushalten können. Aber niemand sonst wäre in der Lage und dazu willens, für die 20.000 Real aufzukommen, die Nem für die lebensrettende Operation seiner erkrankten Tochter so händeringend benötigt. Während sich seine Frau um das Kind kümmert, arbeitet er in einer kleinen Verteileragentur, die Mutter geht in den reichen Vororten putzen. Doch das reicht bei weitem nicht, um das Geld jemals zurückzahlen zu können. Nem weiß das. Sollte er sich also für diesen Weg entscheiden, so würde er ab sofort für Lulu arbeiten müssen. Oder sein Kind stirbt.
Keine halbe Stunde später geht er ein zweites Mal die Rua Um entlang, diesmal jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Da kann er noch nicht ahnen, dass er in kürzester Zeit zum größten Drogenboss Brasiliens aufsteigen – und wieder fallen – wird.
Bei der Recherche zu seinem hervorragenden, spannungsreich geschriebenen Buch erhielt Misha Glenny erst nach zähen Verhandlungen die Genehmigung, im Staatlichen Hochsicherheitsgefängnis von Campo Grande seine ertragreichste Informationsquelle zu befragen: Antônio Francisco Bonfim Lopes selbst. Den bis heute jedes Kind in Brasilien unter dem Namen „Nem aus Rocinha“ kennt. Die Geschichte, die der eher schmächtige, sehr höfliche Mann in seiner blauen Sträflingskleidung zu erzählen hat, ist eine Geschichte über Armut und Macht, eine Geschichte über kaltblütig mordende Dealer, die einem archaischen Moralkodex anhängen, sowie über einen korrupten, sich selbst über das Gesetz erhebenden Polizeiapparat. Und nicht zuletzt die Geschichte jener Menschen, die unter den offenen Missständen und dem täglichen Terror in den Favelas ihr Leben fristen müssen. Ein gutes Buch, das aufschlussreiche Einblicke in eine Welt darlegt, welche zu betreten den meisten von uns niemals gewährt werden würde. Misha Glenny jedoch war dort. Mehrmals. Wie gesagt: Ein gutes Buch.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln