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Autor
Ulitzkaja, Ljudmila

Jakobsleiter

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Beschreibung

1975, nach dem Tod ihrer Großmutter Marussja, erbt Nora die Briefe zwischen ihren Großeltern Marussja und Jakow. Lange denkt sie kaum daran, bis sie die Briefe eines Tages hervorholt und beschließt, ein Buch zu schreiben. Auch die Autorin Ljudmila Ulitzkaja hatte die Briefe ihrer Großeltern vor sich, als sie diesen Roman schrieb. Die Geschichte ihrer eigenen Familie sickert ein in dieses Panorama des 20. Jahrhunderts, das Fragen aufwirft zu dem Verhältnis zwischen dem Einzelnem, seinen Vorfahren und der kollektiven Geschichte.

Ulitzkajas Buch gelingt es, dem Leser dieses Gefühl der in die Gegenwart reichenden Vergangenheit zu vermitteln – vor allem dadurch, dass das Buch bis in eine uns ferne Zukunft, ins Jahr 2030, reicht. Dann nämlich werden es unsere eigenen Stimmen sein, die die Vergangenheit erzählen müssen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Verlag, 2017
Format
Gebunden
Seiten
608 Seiten
ISBN/EAN
978-3-446-25653-8
Preis
26,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Neben zahlreichen anderen Preisen erhielt 2008 Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.

Zum Buch:

1975, nach dem Tod ihrer Großmutter Marussja, erbt Nora die Briefe zwischen ihren Großeltern Marussja und Jakow. Lange denkt sie kaum daran, bis sie die Briefe eines Tages hervorholt und beschließt, ein Buch zu schreiben. Auch die Autorin Ljudmila Ulitzkaja hatte die Briefe ihrer Großeltern vor sich, als sie diesen Roman schrieb. Die Geschichte ihrer eigenen Familie sickert ein in dieses Panorama des 20. Jahrhunderts, das Fragen aufwirft zu dem Verhältnis zwischen dem Einzelnem, seinen Vorfahren und der kollektiven Geschichte. Die Kapitel wechseln zwischen Noras Perspektive und den Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Berichten aus dem Leben ihrer Großeltern Jakow und Marussja.

Noras Großeltern Jakow und Marussja Ossetzki schrieben sich zwischen 1911 und 1954 unzählige Briefe, denn diese Eheleute waren öfter getrennt als zusammen. Sie hatten sich bei einem Rachmaninow-Konzert in Kiew kennengelernt. Marussja ist eine kluge Studentin und Lehrerin, die nur einen Traum hat: in einer der neuen Bewegungsschulen in Moskau bei Ella Rabenek, einer Schülerin Isadora Duncans, Tanz zu studieren. Tatsächlich wird sie aufgenommen, und so kommt es zur ersten Trennung zwischen Jakow und Marussja, während der sie viele Briefe wechseln.

Jakows Leidenschaft ist die Musik, aber er muss auf Drängen des Vaters neben dem Musikstudium auch ein Studium der Ökonomie absolvieren. Als ihm 1912 als Jude der Zugang zu Universität verwehrt wird, beschließt er, sich beim Militär zu verpflichten, in der Hoffnung, danach sein Studium beenden zu können, und auch in dieser Zeit wechseln Marussja und Jakow viele Briefe. Ab 1914 leben sie zusammen in Kiew, Marussja wird schwanger und muss ihre Tanzkarriere aufgeben. Mit ihrem Sohn Genrich macht sie wegen ihrer kränklichen Konstitution eine Kur auf der Krim – wieder Briefe.

Während Marussja die Oktoberrevolution und die Sowjetunion begrüßt, ist Jakow skeptisch; sie ist eine Bohemienne, die sich selbst eine Proletarierin nennt, obwohl sie aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie stammt, er ein belesener kritischer Intellektueller.Schon bald wird er verhaftet und für eine lange Zeit in ein Lager verbannt. Der inzwischen erwachsene Sohn, ein treuer Sowjetbürger, sagt sich von ihm los, und auch Marussja distanziert sich – bis sie sich schließlich aus der Ferne von Jakow scheiden lässt. Dennoch schildert Jakow seine Gefühle und Gedanken in seinen Briefen an sie, die er nun allerdings nicht mehr abschickt. Trotz all dieser Widrigkeiten bleibt er bis zuletzt integer und enthusiastisch: ihm gelingt es, sich auch unter den widrigsten Umständen einzuleben und einen Tätigkeitsbereich für sich zu finden, der ihn intellektuell fordert.

Etwas von Jakows Zähigkeit und Selbstgenügsamkeit scheint Nora geerbt zu haben. Nora ist Bühnenbildnerin und alleinerziehende Mutter eines hochintelligenten, sonderbaren Kindes, Jurik. Der Vater des Kindes ist ihr hochbegabter, aber autistisch wirkender ehemaliger Klassenkamerad Vitja, den sie eigentlich mehr aus Spaß geheiratet hat. Ab und zu wird Nora von Tengis besucht, einem georgischen Regisseur, mit dem sie hocherfolgreiche Bühnenproduktionen entwirft. Noras und Tengis’ Beziehung ist langwierig, wird aber immer nur dann fortgesetzt, wenn er entscheidet, zu ihr kommen. Um ihrem zurückgezogenen Sohn, der sich nur für Musik und seine Gitarre zu interessieren scheint, die Wehrpflicht zu ersparen, schickt sie ihn zu dem inzwischen in Amerika lebenden Vitja. Dort verliert sie ihren Sohn fast an den Drogensumpf New Yorks, kann ihn aber in einer haarsträubenden Rettungsaktion gemeinsam mit Tengis gerade noch nach Moskau zurückholen.

Im KGB-Archiv sieht Nora 2011 die Akte ihres Großvaters ein, dem sie nur einmal ganz kurz begegnet ist. Nun wird sie mit all den Grausamkeiten der Folter und Verhöre konfrontiert, die Jakow, um seine Frau zu schonen, in seinen Briefen verschwiegen hatte. Plötzlich wird sie sich darüber klar, wie sehr sie die Geschichte ihrer Vorfahren selbst betrifft, und beschließt, ein Buch darüber zu schreiben, dessen Leitmotiv die Verbundenheit der Generationen sein soll. Ulitzkajas Buch wiederum gelingt es, dem Leser dieses Gefühl der in die Gegenwart reichenden Vergangenheit zu vermitteln – vor allem dadurch, dass das Buch bis in eine uns ferne Zukunft, ins Jahr 2030, reicht. Dann nämlich werden es unsere eigenen Stimmen sein, die die Vergangenheit erzählen müssen.

Alena Heinritz, Graz