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Die Einrichtung des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg im Mai 1945 und der Prozess gegen 22 hochrangige Vertreter des nationalsozialistischen Staates erschienen vielen Zeitgenossen als ein „Geschichtszeichen“, d.h. als ein Beweis des „Moralischen im Grundsatze“ (Kant). Die Sieger saßen über die Urheber von Angriffskriegen zu Gericht, aber sie setzten dabei nicht auf Macht und Rache, sondern auf die Vorfahrt von Recht und Vernunft im Namen von historischer Aufklärung und Re-education. Kritiker bezichtigten die Alliierten – zu Unrecht –, „Siegerjustiz“ zu üben. Der britische Völkerrechtsprofessor William A. Schabas zeigt in seinem Essay zur internationalen Strafjustiz – die mit den Prozessen in Nürnberg und Tokyo begann –, dass dieser Vorwurf von politischen Ressentiments lebt. Bei allen Mängeln sorgten die noch nicht durch den Kalten Krieg verbiesterten Alliierten für einen fairen Prozess gegen die Hauptverantwortlichen der deutschen und japanischen Angriffskriege. Sie setzten den rechtsstaatlichen Grundsatz, „nullum crimen sine lege“ („kein Verbrechen ohne Gesetz“) mit guten Gründen außer Kraft und führten den neuen Straftatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ ein, der geeignet war, dem hybriden Ausmaß der Kriegsverbrechen gerecht zu werden.
„Juristisch sorgfältig“ (Schabas), aber nicht ohne zynische Nebenabsicht, definierten die Alliierten die Zuständigkeit des Gerichts so, dass Kriegsverbrechen der Sowjetunion (Katyn) und der USA (Hiroshima) nicht verfolgt werden konnten. Der heikelste Punkt im Nürnberger Prozess war die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Ankläger. Sie waren allesamt mehr oder weniger weisungsgebundene Angestellte der Sieger.
Mit der Einrichtung der Ad-hoc-Gerichtshöfe zu Ex-Jugoslawien und Ruanda nach 1993 vermied der UN-Sicherheitsrat diese Falle. Aber jedes der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (USA, China, Russland, Frankreich, England) konnte sein Veto einlegen, um Verfahren zu verhindern. Der zum 1. Juli 2002 etablierte Internationale Strafgerichtshof (IStGH) dagegen beruht nicht auf einem UN-Sicherheitsratsbeschluss, sondern auf einem völkerrechtlichen Vertrag, den bisher 120 Staaten ratifiziert haben. Die Chefankläger Luis Moren-Occampo und seine Nachfolgerin Fatou Bensouda sind nicht weisungsgebunden und können selbständig Verfahren gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher eröffnen.
Damit beginnen die beiden Dilemmata des IStGH, denn schon von seiner materiellen Ausstattung her ist er nicht in der Lage, alle Kriegsverbrechen zu ahnden – das wären allein seit 2002 mindestens 10.000 Fälle! Der Gerichtshof muss also auswählen, wen er anklagt. Als Kriterium dafür gilt das „Gewicht“ der Verbrechen, und das ist ein ebenso vages Kriterium wie das im Art. 53 des Gerichtsstatuts genannte „Interesse der Gerechtigkeit“. Zweifellos ist der IStGH kein „politisch neutrales Organ“. Die bisherige Praxis der Chefankläger zeigt, dass sich ihre „Prioritäten“ bei ihren Entscheidungen zu ermitteln nahtlos decken mit den „strategischen Interessen der Vereinigen Staaten“ (Schabas). Ermittlungen gegen Uganda, Kongo, Kenia, Sudan, Libyen u.a. waren erwünscht, solche gegen Israel/Palästina ebenso wenig wie gegen Großbritannien wegen mutmaßlicher Verbrechen britischer Soldaten im Irak. Politisch unangenehme Ermittlungen des Gerichtshofs kann der UN-Sicherheitsrat nach Art. 16 des Gerichtsstatuts blockieren. „De facto“ kontrolliert er also „den Zugang zum Gerichtshof.“
Das zweite Dilemma betrifft die Nicht-Kongruenz von inner- und zwischenstaatlicher Strafverfolgung. Im Unterschied zu den Zielen innerstaatlicher Strafverfolgung (Sühne, Vergeltung, Abschreckung, Prävention, Rehabilitation) hat internationale Strafverfolgung immer eine weitere, explizit politische Dimension: Die Verfolgung von Kriegsverbrechen soll einen „Beitrag zum Frieden“ leisten. Was das konkret bedeutet, ist schwer zu sagen und kaum justiziabel. Ein Urteil gegen Kriegsverbrecher kann, muss aber nicht friedensfördernd wirken.
Schabas plädiert dafür, Bürgerkriegsparteien in Wahrheitskommissionen zur Friedensstiftung und Versöhnung einzubinden, und zwar als Korrektiv für „die inhärenten Grenzen juristischer Strafverfahren“. In Südafrika waren solche Kommissionen erfolgreich. Auch Amnestien können hilfreich sein bei der Beendigung von Bürgerkriegen, während das Beharren auf juristischen Urteilen und Gerechtigkeit à tout prix Konflikte anheizen und verlängern kann – wie etwa in Uganda. Schabas‘ Essay ist in seiner Dichte und Substanz großartig.
Rudolf Walther, Frankfurt am Main