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Autor
Rosanvallon, Pierre

Die Gesellschaft der Gleichen

Untertitel
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Beschreibung

Der Begriff „Gleichheit“ hat keine gute Presse. Meistens wird er denunziert als hinterwälderische oder steinzeit-kommunistische Gleichmacherei. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon zeigt in seinem bedeutenden Werk, dass dies nicht nur eine historische Legende ist, sondern obendrein eine politisch inspirierte Dummheit.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hamburger Edition, 2013
Format
Gebunden
Seiten
384 Seiten
ISBN/EAN
978-3-86854-257-8
Preis
33,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Pierre Rosanvallon, Professor für neuere und neueste politische Geschichte am Collège de France und Studiendirektor an der École des hautes études en sciences sociales. 2002 rief er den internationalen intellektuellen Workshop »La République des Idées« ins Leben, deren Vorsitzender er ist. Die Gruppe gibt eine Online-Zeitschrift und Bücher heraus. Er forscht und veröffentlicht zur Geschichte der Demokratie und Souveränität, zur Geschichte des französischen Politikmodells sowie zu aktuellen Fragen der sozialen Gerechtigkeit.

Zum Buch:

Der Begriff „Gleichheit“ hat keine gute Presse. Meistens wird er denunziert als hinterwälderische oder steinzeit-kommunistische Gleichmacherei. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon zeigt in seinem bedeutenden Werk, dass dies nicht nur eine historische Legende ist, sondern obendrein eine politisch inspirierte Dummheit.

Entgegen der Legende von der sozialistisch-kommunistischen Herkunft des Gleichheitsbegriffs demonstriert Rosanvallon, dass sowohl die Französische Revolution von 1789 wie ihre amerikanische Vorgängerin von 1776 von Bürgern gedacht und getragen wurde, denen ein gemeinsames Ziel vorschwebte – die „Gesellschaft der Gleichen“. Für beide Revolutionen waren Freiheit und Gleichheit nicht nur untrennbar, sondern gleichursprünglich.

Die Gleichheitsvorstellungen der französischen wie der amerikanischen bürgerlichen Revolutionäre gründeten auf drei Prinzipien: auf gemeinsamen Grundrechten, die von den materiellen, kulturellen, intellektuellen und religiösen Unterschieden zwischen den Bürgern nicht tangiert werden; auf der Unabhängigkeit aller und der Ablehnung jeder Unterordnung außer jener unter das Gesetz und schließlich auf egalitärer politische Teilhabe, d.h. auf Staatsbürgerschaft und Wahlrecht.

Im Widerspruch zu dieser egalitären Grundposition wurde in der „Gesellschaft der Gleichen“ Frauen und Sklaven die Gleichberechtigung abgesprochen und das Wahlrecht vielfältig beschränkt – durch den Zensus oder den Ausschluss der Analphabeten vom Wahlrecht.

Je mehr sich Industrialisierung und Kapitalismus durchsetzten, desto illusorischer wurde die Vorstellung von der Gesellschaft der Gleichen. Die herrschenden liberal-konservativen Eliten verdünnten die Gleichheitsvorstellung von 1789 im Laufe des 19. Jahrhunderts auf ein karges Minimum – die Gleichheit vor dem Gesetz. Die soziale Dimension von Ungleichheit wurde psychologisiert oder naturalisiert. Als Ursache von Armut galten nun wieder „Faulheit“, „Ausschweifung“ oder naturbedingte Faktoren. Die „egalitäre Ursprungsphilosophie“ wurde „wissenschaftlich“ demontiert von „Phrenologie“ (Lehre von den Schädelformen) und „Kraniometrie“ (Gehirnvermessung) – schließlich von Rassetheorien, Nationalgeschichten und Völkerpsychologie mit ihren Phantasien von quasi-naturgegebener „identitärer Gleichheit.

Angesichts des politischen Drucks von Benachteiligten und Ausgeschlossenen entschlossen sich die politischen Eliten Ende des 19. Jahrhunderts zu Korrektiven in Form von Sozialversicherungen, progressiven Einkommenssteuern und kollektiven Arbeitsrechten für Gewerkschaften. Rosanvallon führt diesen historischen und politischen Bruch auf die Angst der Eliten vor Revolutionen zurück und spricht von einem „Jahrhundert der Umverteilung“ im Zeichen des Weltkriegs und danch des „redistributiven Sozialstaats“.

Aber bereits Mitte der 70er des 20. Jahrhunderts Jahr kam unter der Flagge des Neoliberalismus der brutale Gegenschlag. Es begann, was Rosanvallon das „Zeitalter der Ungleichheiten und der Aufkündigung sozialer Solidarität“ nennt. Die „totale Konkurrenzgesellschaft“ machte den Konsumenten zum Maßstab des Gemeinwohls und erklärte Risiko und Zufall zur anthropologischen Grundausstattung.

Im letzten Kapitel seiner beeindruckenden Analyse untersucht Rosanvallon die Chancen einer neuen „Gesellschaft der Gleichen“ unter den heutigen, nicht hintergehbaren Bedingungen. Dazu gehören das Recht und die Chance jedes Einzelnen zur Singularität, d.h. er oder sie selbst zu sein, aber dennoch mit andern zusammenleben zu wollen. Unter den Bedingungen von Gleichheit funktioniert das nur durch die wechselseitige Anerkennung von Partikularitäten, also nach dem Prinzip der Reziprozität. Und schließlich geht es um politische Teilhabe am Ganzen nicht nur im Wahlakt, sondern auch im Alltag, die der Autor Kommunalität nennt.

Wie eine Politik aussehen könnte, die Singularität, Reziprozität und Kommunalität systematisch kombiniert und deren Effekte sich kumulieren, kann der Autor aus Platzgründen nur andeuten. Aber allein diese Skizzen sind anregend, weil sie die die herkömmlichen Rezepte der Sozialpolitik weit hinter sich lassen. Dem politisch wichtigen Buch kann man nur viel Erfolg wünschen und dem Verlag dafür danken, dass er die Kosten und Risiken nicht gescheut hat, das Meisterwerk übersetzen zu lassen.

Rudolf Walther, Frankfurt am Main