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Autor
Rolin, Olivier

Der Meteorologe

Untertitel
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Beschreibung

Nach seinem Dokumentarfilm über die Bibliothek auf der Gulag-Insel Solowki erzählt der französische Romancier Olivier Rolin in „Der Meteorologe“ nun die Geschichte des sowjetischen Meteorologen Alexei Feodossjewitsch Wangenheim und seiner Gefangenschaft auf Solowki. Mit Hilfe von Archivmaterialien, Historikern und Mitarbeitern von „Memorial“ hat Rolin, der in den sechziger Jahren einer militanten maoistischen Vereinigung angehörte, eine gründliche Recherche über die Abläufe stalinistischer Repression angestellt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Liebeskind Verlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
224 Seiten
ISBN/EAN
9783954380497
Preis
19,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Olivier Rolin wird 1947 in Boulogne-Billancourt geboren. Die Kindheit verbringt er im Senegal, nach seinem Schulabschluss studiert er in Paris Literatur und Philosophie. 1967 tritt er der “Kommunistischen Jugend” Frankreichs bei, ein Jahr später wird er Mitglied des maoistisch orientierten “Neuen Volkswiderstands” und beteiligt sich an militanten Aktionen. Als sich die Bewegung 1973 auflöst, geht er für längere Zeit in den Untergrund. 1978 wird er Lektor und später Herausgeber in einem Pariser Verlagshaus, 1983 erscheint sein erster von bislang elf Romanen. Für “Port Sudan” wird er 1994 mit dem renommierten Prix Femina ausgezeichnet, für “Die Papiertiger von Paris” erhält er 2003 den Prix France Culture.

Zum Buch:

Nach seinem Dokumentarfilm über die Bibliothek auf der Gulag-Insel Solowki erzählt der französische Romancier Olivier Rolin in „Der Meteorologe“ nun die Geschichte des sowjetischen Meteorologen Alexei Feodossjewitsch Wangenheim und seiner Gefangenschaft auf Solowki. Mit Hilfe von Archivmaterialien, Historikern und Mitarbeitern von „Memorial“ hat Rolin, der in den sechziger Jahren einer militanten maoistischen Vereinigung angehörte, eine gründliche Recherche über die Abläufe stalinistischer Repression angestellt.

Nachdem er jahrelang erfolgreich an der Verbesserung des sowjetischen Wetterdienstes gearbeitet hatte, wird Wangenheim am 8. Januar 1934 wegen angeblicher Sabotage verhaftet. In der Anklage hieß es, er habe durch bewusst falsche Wettervorhersagen der Landwirtschaft in der Sowjetunion geschadet und so zum großen Nahrungsmittelmangel beigetragen. Die Vorwürfe gegen ihn hält Wangenheim zwar zunächst für Missverständnisse, stimmt den Urteilen gegen ihn dann aber schließlich zu. In Briefen versucht er immer wieder vergeblich, hohe Verwaltungsbeamte und sogar Stalin selbst von seiner Hingabe an Partei und Staat zu überzeugen. Aus dem Lager schreibt er jedoch auch zahlreiche Briefe an seine Frau und seine kleine Tochter Eleonora. Am 3. November 1937 wird er hingerichtet.

Im Buch farbig abgebildet sind die Zeichnungen, die Wangenheim seiner Tochter Eleonora aus dem Lager schickte. Die meisten zeugen von einem mehr oder weniger didaktischen Ansinnen: das „arithmetische Herbarium“ sollte dazu dienen, seiner Tochter anhand von aufgeklebten oder gezeichneten Pflanzenblättern die Gesetze von Geometrie und Zahlen nahe zu bringen. Dann gibt es eine Reihe Bilderrätsel, wie z.B. „Siebzig Mäntel / Aber weder Knopf noch Schnalle“ und daneben die Zeichnung eines Kohlkopfes. Darüber hinaus finden sich aber auch Zeichnungen aus dem Alltag des Vaters.

Seine Gefangenschaft verbrachte Wangenheim im Solowezki-Lager im Weißen Meer. Dort arbeitete er vor allem in eben jener Bibliothek, in der der Erzähler Jahrzehnte später, im Jahr 2012, Reproduktionen von Wangenheims Zeichnungen finden wird. Dieser Erzähler, zunächst Moderator zwischen Wangenheims Geschichte und dem Leser, stellt sich im Verlauf des Buches immer weiter in den Vordergrund. In einer Rahmengeschichte, die in der heutigen Zeit spielt, berichtet er, wie er auf die Geschichte des Meteorologen Wangenheim gestoßen war, was ihn daran faszinierte und wie er nach und nach anhand von Behördendokumenten und den Briefen Wangenheims dessen Geschichte rekonstruierte. Laut Erzähler handelt es sich bei seinem Unterfangen um einen „Bericht“ „(…) so sorgfältig erzählt, wie ich konnte, ohne zu fabulieren“. Tatsächlich scheint der Erzähler jedoch mehr und mehr in die Geschichte involviert zu werden, sodass die Trennung zwischen objektivem Bericht, historischen Dokumenten und subjektiver Erzählerperson nur schwer zu ziehen ist. Es scheint, als könne der Erzähler von einem bestimmten Zeitpunkt an seinen objektiven Beobachterstatus angesichts der ans Licht tretenden Ungerechtigkeit nicht mehr halten. Er beginnt sich einzumischen, einzufühlen und fordert zuletzt Genugtuung: Rache an den „Henkern“. Zwischendurch finden sich Reflektionen über seinen Wunsch, Wangenheim in seinem Bericht als Helden darzustellen, der sich auflehnte. Stattdessen muss er sich immer wieder eingestehen, dass es sich bei Wangenheim um einen „normalen Unschuldigen“ handelt. Zuletzt aber sieht er gerade in dieser Eigenschaft seines Protagonisten das zentrale Interesse an dessen Geschichte.

„Der Meteorologe“ ist ein Buch, das zum einen von der Willkür des stalinistischen Terrors berichtet, gleichzeitig aber eine Diskussion nach der Grenze zwischen historischem Bericht und literarischer Fiktion fordert und danach fragt, in welcher Form historische Zusammenhänge erzählt werden können.

Alena Heinritz, Mainz