Zum Buch:
Schon der Titel hat etwas verwunschen Rätselhaftes: “mutterseelenallein – zwei“. Auf dem Cover finden wir die Abbildung einer Installation, der wir später unter der sprechenden Überschrift “Tendenzerfüllte Attacke auf den Beschauer“ wiederbegegnen werden. Dass der Titel eines einzelnen Kapitels – „Das Tabu der Schönheit“ – den Vorzug bekommt, auf der Frontseite erscheinen zu dürfen, lässt sich gegenüber anderen Abschnitten allein damit rechtfertigen, dass hierin die Summe des Werks am nachdrücklichsten erscheint.
Gegenstand des Buches ist die Analyse von Kunstwerken, und zwar – will man einen großen Titel paraphrasieren – ’in ständiger Rücksicht auf Psychoanalyse’. Wir unternehmen mit dem Autor fünf ’Werkbegehungen’, in denen exemplarisch gezeigt wird, wie eine Annäherung an die mit Bedacht ausgewählten Installationen, Mosaiken und Gemälde methodisch sinnvoll geleistet werden kann. Die Bildanalysen werden Schritt für Schritt nachvollziehbar und mit Sorgfalt entwickelt; sie können am ehesten der Zustimmung sicher sein.
Dem stehen sechs anspruchsvolle Kapitel mit theoretischen Erörterungen gegenüber. Dies ‘Gegenüber’ ist ein Sich-gegenseitig-Durchdringen, fügt die Teile zu einem Ganzen und hebt so das Buch wohltuend von einer bloßen Aufsatzsammlung ab. Den Zündstoff aber enthält dieser theoretische Teil. Der hatte bereits in der Version des ersten Bandes dieses Werkes für einige Gereiztheit unter kunstinteressierten Psychoanalytikern gesorgt, was nicht verwunderlich ist, da Psychoanalytiker für ihre Patienten Kostenübernahme bei den Krankenkassen beantragen und hierzu das erstellen, was sich dann in Kunstinterpretationen als Psychopathographie (hier des Künstlers statt des Analysanden) ausdrückte. Analog zur Neurose wurden dazu Kunstwerke aus der Lebensgeschichte heraus erklärt und die Lebensgeschichte aus dem (jeweils lokal ansässigen) Theoriekonzept entwickelt. Psychopathographien gehörten lange Zeit zu den beliebtesten, einst von der Orthodoxie geradezu geforderten, inzwischen fragwürdigsten Produkten schreibender Psychoanalytiker. Ein anderer Weg bedient sich des Begriffspaares Übertragung/Gegenübertragung, wobei die Gefühlsantwort des Betrachters auf das Bild als “Gegenübertragung” deklariert und zum Ausgangspunkt der Werksanalyse gemacht wird. Es war Lorenzer, dem wir die Entwicklung der Tiefenhermeneutik und den Begriff des “szenischen Verstehens” verdanken, der dann darüberhinaus, zur Erweiterung der Erkenntnisgrenzen, die eigene Taube in den luftleeren Raum der sog. ‘Kulturanalysen’ schickte, wo sie (wie wir von Kant wissen) scheitern mußte – und dies auch hartnäckig weiterhin tut. Mit seiner fundierten Kritik des tiefenhermeneutischen Verfahrens findet sich Reiche in Übereinstimmung mit der Objektiven Hermeneutik. So hebt auch Oevermann die “unübersteigbare Grenze” zwischen der lebendigen Erfahrung des Subjekts (geträumter Traum / gemaltes Bild) und der protokollierten Ausdrucksgestalt (Traumtext / Bildbeschreibung) hervor. Weder schaffender Künstler, noch “Gegenübertragung”-erlebender Betrachter können diese Grenze überschreiten. Besondere Beachtung verdienen Reiches Ausführungen zur “Ästhetischen Theorie” von Adorno, die (denke ich) so etwas wie das Herz der hier entwickelten Gedankenwelt darstellen. In deren Zusammenhang steht u.a. auch die Strukturhomologie, die er zwischen Traum und Kunstwerk aufdeckt. Subjekt der Kunst ist weder der Künstler, noch der Betrachter; wie auch nicht der Analytiker und nicht der Analysand Subjekt der Analyse sind, sondern ein Drittes: der analytische Prozess. Dieses Dritte ist das latente Kunstwerk oder Formgesetz, das vorschreibt, wie es zu realisieren sei.
Den Abschluß bilden die beiden erhellend-reizvollen Kapitel “Der Weg vom Fetisch zum Kunstwerk” (im Museum) – und der Weg “zurück in den Museums-Shop: Vom Kunstwerk zum Fetisch”.
Ob man es mit einem leicht zu lesenden oder einem eher schwierigen Text zu tun bekommt? Diese Fage zu beantworten, weigere ich mich. Das Buch ist anspruchsvoll, der Stil ausgesprochen klar, die Argumentation überzeugend. Der Text macht sich nicht schwerer als die Sache selbst. Dass eine gewisse Verwahrlosung im Bereich psychoanalytischen Denkens vielen nicht mehr ganz ausgeschlossen erscheint, ist Grund, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Jeder lese nach seinen Möglichkeiten. Dieses Buch bietet dazu eine ausgezeichnete Gelegenheit. Und: “Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein!” (Brecht).
Norbert Boller, Frankfurt am Main