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Autor
Raulff, Ulrich

Wiedersehen mit den Siebzigern

Untertitel
Die wilden Jahre des Lesens
Beschreibung

Wolfgang Abendroth, Roland Barthes, Alfred Schmidt, Foucault, Deleuze, Bourdieu – auf schlanken 170 Druckseiten gewährt Ulrich Raulff, Jahrgang 1950 und seit einem Jahrzehnt höchst erfolgreicher Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar, Einblicke in seine frühe intellektuelle Biografie und gibt Auskunft über die Persönlichkeiten, die für ihre Ausprägung eine Rolle spielten.Raulffs Buch sei nicht nur den Generationsgenossen, sondern allen an der Geistes- und Mentalitätsgeschichte der “mittleren” Bundesrepublik ausdrücklich zur Lektüre empfohlen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Klett-Cotta Verlag, 2014
Format
Gebunden
Seiten
170 Seiten
ISBN/EAN
9783608948936
Preis
17,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Ulrich Raulff, geb. 1950, Studium der Philosophie und Geschichte. Ab 1997 Feuilletonchef der FAZ; 2001-2004 Leitender Redakteur im Feuilleton der SZ. Seit 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Träger des Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs in Berlin für wissenschaftliche Prosa (1996) und des Hans-Reimer-Preises der Aby-Warburg-Stiftung (1997).

Zum Buch:

Wolfgang Abendroth, Roland Barthes, Alfred Schmidt, Foucault, Deleuze, Bourdieu – auf schlanken 170 Druckseiten gewährt Ulrich Raulff, Jahrgang 1950 und seit einem Jahrzehnt höchst erfolgreicher Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar, Einblicke in seine frühe intellektuelle Biografie und gibt Auskunft über die Persönlichkeiten, die für ihre Ausprägung eine Rolle spielten (wobei die oben wiedergegebene Auflistung natürlich längst nicht vollständig ist). Der Titel “Wiedersehen mit den Siebzigern” meint also zuerst die eigenen Erfahrungen als Student im tiefroten oberhessischen Marburg ab dem Herbst 1971, in Frankfurt am Main und Paris, später als Verlagslektor, Zeitschriftenredakteur und Übersetzer zeitgenössischer französischer Philosophie unter anderem in Berlin. Der Rückblick auf die eigene intellektuelle Entwicklung fällt nüchtern aus, von Verklärung kaum eine Spur. Das liest sich dann so: “Marburg war eine Art Freilichtmuseum, in dem man den Stil von 68 noch lange Zeit ziemlich unverändert studieren konnte. Anfangs fand ich das aufregend. Ich hatte das, was man sich unter 68 vorstellt, teach ins, Demos, freie Liebe und so, verpasst. Als es losging, war ich noch auf der Schule, dann kam die Bundeswehr, und als ich wieder auf der Straße stand, war das Fest vorbei. Oder der Spuk, wie man will. In späteren Diskussionen bezeichnete ich mich als Flakhelfer von 68, und das traf es nicht schlecht. Für die Studentenrevolte war ich zu jung gewesen, und als ich selber zu studieren begann, war die Revolte alt und in die Verwaltung von kommunistischen Splittergruppen übergegangen. Die Spannung war verflogen, geblieben waren die Erklärungen. Kein guter Moment für einen, der auszog, ein Intellektueller zu werden.”

Man liest Raulffs Büchlein in ein, zwei langen Zügen durch, der Stil ist lakonisch-locker und in angenehmer Weise (selbst-) ironisch eingefärbt. Unterschätzen sollte man den Anspruch der Publikation gewiss nicht; über das Autobiografische hinaus bietet der Text genaue Beobachtungen und Einschätzungen, die nicht nur für Weggefährten spannende Lektüre sein dürften: über den linken Dogmatismus in Marburg und anderswo, die Lebensbedingungen für neugierige junge deutsche Intellektuelle in Paris und London, die Frankfurter Buchmesse, das Raubdruckwesen, Antiquariate in Universitätsstädten, den Suhrkamp Verlag und andere Themen. Raulff schildert, leider recht knapp, seine Lektürebegegnungen mit dem Hamburger Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg und dessen “Nachfolgern” wie Erwin Panofsky und Edgar Wind, zunächst in Florenz, später im Warburg Institute in London, wo Anne Marie Meyer ihn in den von ihr gehüteten Nachlass Warburgs einführte.

Der Untertitel deutet ein Grundthema des Buches an, das die zehn Kapitel wie einen roten Faden durchzieht. Raulff gelingt der Schritt von den persönlichen Lesererfahrungen des Heranwachsenden und jungen Erwachsenen ins Allgemeine und Zeittypische: “Ich las wie ein Kind meiner Zeit, Zeitschriften, Fotokopien, Taschenbücher, bedrucktes Papier in jeder Form und Stärke. […] Wir lasen nervös, flüchtig, querbeet und nicht, wie wir sollten, aber wir lasen mit heißen Ohren. Es waren wilde Jahre des Lesens, Heuernte bei Gewitter, hätte Warburg gesagt. Wir mussten schnell sein, die Zeichen standen auf Sturm.” In der Rückschau entsteht eine erstaunlich intensive Reflektion von historischen Erfahrungen, von denen uns die Digitalisierung unseres Lebens unwiderruflich abschneidet.

Bei Büchern wie dem vorliegenden wird oft auf ein Personenregister verzichtet, das ist schade, trotz des geringen Umfangs. Abbildungen gibt es ebenfalls nicht. Und man wünschte sich an manchen Stellen etwas mehr “Fleisch” am Text. Das sind jedoch Anmerkungen am Rande. Raulffs Buch sei nicht nur den Generationsgenossen, sondern allen an der Geistes- und Mentalitätsgeschichte der “mittleren” Bundesrepublik ausdrücklich zur Lektüre empfohlen.

Björn Biester, Welterod