Zum Buch:
In Luis‘ Kindheit fanden alle, seine Eltern sähen aus wie das Glamourpaar Richard Burton und Elisabeth Taylor. Leider benahmen sie sich auch so. Zuviel Alkohol und mörderische Streitereien bestimmen den Alltag der jungen Eltern. Luis lernt früh, zu fliehen und seine Gefühle zu verbergen. Bis es zur Katastrophe kommt. Der Vater vertrinkt seine gutgehende Zahnarztpraxis und die Mutter sitzt nach einem Autounfall leblos im Rollstuhl. Ihre einzige Verbindung zum Leben scheint ein eine kleine holländische Landschaft aus dem 18. Jahrhundert zu sein, die sie mit Hingabe betrachtet. Als der Vater das Bild abhängt und verkaufen will, kollabiert die Mutter. Der junge Mann, der ein großes Talent zum Abmalen, jedoch keinerlei kreative Ambitionen hat, versucht, so lange er das Bild noch vor Augen hat, eine Kopie herzustellen, die ihm zumindest so gut gelingt, dass die Mutter wieder ruhig wird. Nachdem der Vater ungerührt auch noch droht, die Kopie zu verkaufen, und die Mutter erneut außer sich gerät, flüchtet Luis, zieht zu seiner Jugendfreundin und bricht vollständig mit seinen Eltern.
In den nächsten Jahren treibt er durchs Leben. Er verliebt sich halbherzig und nimmt das Scheitern der Beziehungen fast ungerührt hin. Bis er, inzwischen fast vierzig Jahre alt, Nora kennenlernt. Mit ihr, die ebenfalls in ihrem Elternhaus keinen Schutz fand, ist es ihm ernst, von ihr fühlt er sich verstanden. Dann sieht er eines Tages im Fenster einer Galerie das kleine Landschaftsbild und ist sicher – es ist seine Kopie. Als Nora ungeplant schwanger wird gerät sein Leben erneut ins Wanken.
Mehr sei hier nicht verraten – Linus Reichlin ist Autor mehrerer erfolgreicher Kriminalromane und weiß, wie man Spannung erzeugt. Aber das Buch geht über reine Spannungslektüre hinaus. Der Stil des Textes ändert sich im Laufe der Geschichte mit dem Erzähler, vom naiven Kind über den weitgehend selbstbezogenen Jugendlichen hin zur zunehmenden Selbstreflexion des Erwachsenen. Der Leser nimmt so an der Entwicklung eines Jungen teil, der langsam lernt, seine Empfindungen zu verstecken, zu einem Mann, der das Verstecken in perfekte Verdrängung umgewandelt hat.
„In einem anderen Leben“ ist trotz der tragischen Geschichte ein flott geschriebenes, witziges Buch, das konsequent die Sicht seines männlichen Protagonisten einnimmt. Hinreißend sind die Passagen, in denen Luis fassungslos zusehen muss, wie seine Liebe Nora, die spritzige, leuchtende junge Frau durch Schwangerschaftskomplikationen zu einem trägen Wesen mutiert, das seine Tage in flauschigen Freizeitanzügen auf dem Sofa verbringt. Dabei nicht ins Diffamierende zu verfallen und keine der handelnden Personen zu verraten, ist schon eine Kunst! Genau wie die Doppelbödigkeit, die den Text trotz aller Leichtigkeit nie oberflächlich werden lässt.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt