wunnicke

Drucken

Alle Empfehlungen

Autor
Ransmayr, Christoph

Atlas eines ängstlichen Mannes

Untertitel
Beschreibung

Wie soll man dieses Buch einordnen? Ist es Reiseliteratur? Sind es Erzählungen? Erinnerungen? Von allem etwas, aber doch ganz anders. Es sind Momentaufnahmen, die der Weltreisende Christoph Ransmayr auf seinen diversen Fahrten rund um den Globus eingefangen hat. Siebzig Begebenheiten, deren einziger inhaltlicher Zusammenhang der Blick des Betrachters ist, der sie uns schildert. Deshalb beginnen sie alle mit zwei Worten: „Ich sah…“
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Fischer Verlag, 2012
Format
Gebunden
Seiten
464 Seiten
ISBN/EAN
978-3-10-062951-7
Preis
24,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Christoph Ransmayr wurde1954 in Wels/Oberösterreich geboren und studierte Philosophie in Wien, wo er nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder lebt. Neben seinen Romanen ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹, ›Die letzte Welt‹, ›Morbus Kitahara‹ und ›Der fliegende Berg‹ erschienen bisher zehn Spielformen des Erzählens, darunter ›Der Weg nach Surabaya‹, ›Geständnisse eines Touristen‹ und zuletzt ›Der Wolfsjäger‹. Für seine Bücher, die bisher in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union.

Zum Buch:

„Ich sah die Heimat eines Gottes…“ „Ich sah eine Walkuh, die in etwa dreißig Meter Wassertiefe schlafend im Blau des Meeresgrundes lag.“ „Ich sah den weinenden Sohn des Gärtners auf der Freitreppe eines Herrenhauses in der irischen Grafschaft Cork.“ „Ich sah das Spiegelbild eines Gletschers auf dem lichtgrünen Wasser eines Bergsees in der osttibetischen Region Kham.“

Siebzig Mal „Ich sah“. Jeder Abschnitt des neuen Buches von Christoph Ransmayr beginnt so, jeder ist aus einer anderen Region der Erde. Die Schauplätze sind Rapa Nui, die Dominikanischen Karibik, Irland, Tibet. Aber auch Österreich, China, Tschechien. Es sind kurze, drei- bis achtseitige Texte. Augenblicke, die der Autor eingefangen hat, Momente, in denen der normale Ablauf der Zeit stillzustehen scheint. Bei einigen handelt es sich um ganz außergewöhnliche Erfahrungen, wie die Begegnung mit einer Walkuh und ihrem Kalb auf einem Tauchgang. Andere sind ganz banal, wie der Anblick zweier kämpfender Hunde, die sich um ein Stück Stoff streiten. Was alle Texte auszeichnet, ist der genaue Blick, mit dem der Autor die Situation festhält. Viele enden mit einer überraschenden Wendung, was nicht in allen Fällen gelingt, oft aber den Atem stocken und den Leser für einen kurzen Augeblick anhalten und den Bildern nachspüren lässt.

Erstaunlich ist, wie einer so gucken kann. Dem Alltäglichen noch etwas Verblüffendes, dem Elenden etwas Schönes, dem Erhabenen eine leise Komik abgewinnen kann. Ransmayr hat den Blick eines Menschen, der viel, aber immer noch nicht genug gesehen hat, der immer noch berührbar ist.

Nicht alle Erzählungen sind von der gleichen atmosphärischen Dichte. Manche sind ein wenig pathetisch, und nicht jedes Sujet wird jeden Leser ansprechen. Das schmälert die Lektüre jedoch nicht, denn was dem einen Leser weniger gut gefällt, berührt vielleicht den anderen, und was gibt es Schöneres über ein Buch zu sagen, als dass wohl jeder etwas darin finden wird, das ihm im Gedächtnis bleibt.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt