Zum Buch:
Warschau im Herbst 1940. Der damals neununddreißigjährige Kavallerieoffizier der polnischen Armee, Witold Pilecki, lässt sich am helllichten Tag und in Zivil bei einer Razzia der SS absichtlich festnehmen und in das Vernichtungslager Auschwitz deportieren. Witold ist kein Selbstmörder. Er hat einen Plan. Er will die dortigen Zustände mit eigenen Augen sehen, darüber einen Bericht verfassen und irgendwie den er den Alliierten zukommen lassen, damit diese anhand seiner Beschreibungen einen Angriffsplan ausarbeiten können. Außerdem will er vor Ort eine oder mehrere Untergrundorganisationen aufbauen, deren Ziel es sein soll, einen möglichen Angriff zu unterstützen und den inhaftierten Kameraden das Lagerleben nur irgend möglich zu erleichtern. Was er innerhalb des Lagers zu sehen bekommt, übertrifft seine schrecklichsten Vorstellungen. Ihm selbst werden gleich am ersten Tag zwei Zähne ausgeschlagen, nur weil er ein Papier falsch herum hält.
Er muss mit ansehen, wie Menschen vor seinen Augen aus reiner Freude am Morden bestialisch zu Tode getreten, erschossen oder von scharfen Hunden zerfleischt werden, wie Alte und Junge, mit kaum etwas am Leib, vor Hunger und Erschöpfung in den harschen Schnee stürzen und nie wieder aufstehen.
Nach drei Jahren, in denen der einst so durchtrainierte Pilecki selbst zu einem bloßen Schatten wird, gelingt ihm überraschend die Flucht. Doch zu seinem Entsetzen hält das Britische Oberkommando die von ihm vorgelegten Pläne zur Befreiung des KZ Auschwitz für undurchführbar. Daraufhin geht Witold Pilecki in den Untergrund; acht Jahre später wird er wegen westlicher Spionage angeklagt und in einem Schauprozess zum Tode verurteilt. Bis heute weiß niemand, wo sein Grab liegt. Er wurde erst Jahre später vollständig rehabilitiert und gilt heute in Polen als Nationalheld.
Wie so viele habe ich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren einiges über die Vernichtungslager während des Zweiten Weltkriegs gelesen, auch über die russischen Gulags, die schrecklichen Pendants zu den Konzentrationslagern. Im vorigen Jahr habe ich Auschwitz und Birkenau besucht und dachte eigentlich, genug gelesen und gesehen zu haben, aber das Aufarbeiten kann und darf niemals enden. Der Bericht von Witold Pilecki – ein Bericht, der gerade durch seine zurückhaltende Sprache sowie durch seine Unmittelbarkeit überzeugt – und seine eigene Geschichte sind ein außerordentlicher Bestandteil dieser Aufarbeitung und sollen und müssen gelesen werden. .
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln