Zum Buch:
Jona sitzt auf dem Arm seines Vaters und reißt das Papier von seinem Geschenk, einem bunten Hampelmann. Er backt Sandkuchen im Regen und weint, als der Nachbarsjunge seine schöne Torte zertritt. Er darf auf der Fähre im Steuerhaus das Ruder drehen. Er sieht dem Fensterputzer zu und lässt seinen Hampelmann für ihn tanzen. Und er geht mit seiner Mutter auf eine überraschende Reise, die in eine Baracke führt, aus der sie der Vater nach ein paar Tagen wieder herausholt, weil alles ein Irrtum war. Er ist vier Jahre alt. Dann muss er mit seinen Eltern wieder auf eine Reise, und diesmal ist es kein Irrtum. Diesmal sind sie in Westerbork, und die nächste Reise wird sie nach Bergen-Belsen führen. Aber was das ist, weiß er nicht.
Es gibt einige literarische Zeugnisse darüber, wie Kinder und Jugendliche die Konzentrationslager der Nazis erlebt haben, darunter vor allem Imre Kertész‘ „Roman eines Schicksallosen“ und Ruth Klügers „WeiterLeben“, aber Jona Oberskis Buch „Kinderjahre“ fällt in eine ganz eigene Kategorie. Es gelingt ihm, diese Zeit ausschließlich aus der Perspektive des Vierjährigen zu erzählen, in einzelnen, kleinen Szenen, klar umrissenen Erinnerungsbildern an Ereignisse, die das Kind, dem jeder Kontext zwangsläufig fehlt, nicht oder falsch versteht. Jona tut alles, was Kinder seines Alters so tun: er lässt sich von den bewunderten größeren Kindern zu einer Mutprobe anstiften und streckt dem SS-Wachmann die Zunge heraus, vergisst über einem Spiel, die Mutter zu dem sterbenden Vater zu rufen, lässt sich, wiederum als Mutprobe, im „Tropenhaus“ einschließen, ohne zu wissen, dass es sich um das Totenhaus des KZs handelt, betrachtet neugierig die aufgestapelten Leichen, darunter auch die seines Vaters – und erzählt das alles mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der andere Kinder ihre Erlebnisse im Kindergarten schildern, ohne jede Sentimentalität und ohne die geringste Verwunderung.
Man liest das mit unglaublichem Erstaunen über die Kunstfertigkeit des Erzählens und mit tiefem Entsetzen angesichts der Verletzungen, die dieses Leben dem Kind zugefügt haben. Dem Diogenes Verlag ist dafür zu danken dass er dieses Buch, das 1978 zuerst erschienen ist, endlich wieder aufgelegt hat.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main