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Ohne die Geldsendungen derjenigen, die es bis hinüber nach Europa, nach Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland oder sogar bis hinauf nach Schweden geschafft haben, wäre Yassara, ein kleines Fischerdorf an der Küste des Senegal, längst sich selbst überlassen und dem Elend überantwortet worden. Jetzt gibt es in Yassara Schulen. Ein Krankenhaus. Mit Pumpen ausgestattete Trinkwasserbrunnen. Telefon.
Der Fischfang in der gesamten Region war durch die riesigen Fabrikschiffe, die vorwiegend für den europäischen Markt das Meer leer fischen, nahezu zum Erliegen gebracht worden. Und seitdem die vormals staatlich unterstützten Bauern ihre dank schlechtem Saatgut kärgliche Erdnussernte auf eigene Kosten zu den Abnehmern schaffen mussten, nur um dort übers Ohr gehauen zu werden, indem sie für ihre Arbeit anstelle von Geld „Bons“ erhielten, entschieden sich immer mehr Menschen, Haus und Hof und Familie zurückzulassen und die gefährliche Reise über das Meer zu wagen.
Durch ein gerechtes Auswahlverfahren sollen aus vier Dörfern der umliegenden Gemeinden jeweils zehn junge Männer ausgesucht und mit einer Piroge, einem kaum zwanzig Meter langen, bananenförmigen Holzboot mit aufgesetzten Bordwänden und schrottreifem Außenbordmotor, auf die Reise geschickt werden. Umgerechnet sechshundert Euro kostet die Überfahrt pro Person, ein unglaubliches Vermögen also für die Schlepper. Das Ziel: die Kanaren, das Tor zu Europa. Ungefähre Dauer der Überfahrt: 10 Tage, falls sie nicht vorher von einem der Patrouillenboote erwischt würden. Vielleicht auch länger.
Ausgestattet mit Trinkwasser, Reis und Trockenfisch, legt die Piroge kurz nach Mitternacht bei aufkommender Flut ab und erreicht schon vor dem Morgengrauen die offene See. Alles läuft gut. Die Männer, von denen die meisten das Meer bisher noch nie gesehen haben und auch nicht schwimmen können, erfreuen sich an den Lichtspiegelungen auf dem glatten Wasser, den Farben, den Fischen, sie sind euphorisch, gut gelaunt, überbieten sich gegenseitig mit ihren Vorstellungen von zukünftigem Reichtum, einem Haus aus festem Stein, einer guten Schulbildung für die Kinder, einem Kühlschrank, vielleicht einem Fernseher. In der Nacht des zehnten Tages machen sie in der Ferne Lichter aus. Am Morgen darauf sind die Lichter verschwunden, doch sie wissen, sie haben es so gut wie geschafft, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter, singen, lachen. Dann, wie aus dem Nichts, ziehen schwarze Wolken auf. Ein Sturm bricht los, die See kocht und meterhohe Wellen schlagen wie Fäuste in das Boot.
Es ist eine Kunst, eine hohe Kunst, auf gerade mal hundert Seiten den Bogen, von Hoffnung, Zuversicht und Freudentaumel zu angsterfülltem, panischem Entsetzen zu schlagen, und auf jeder Seite dieses außergewöhnlichen Romans wünscht man den Protagonisten, sie mögen da herauskommen, ihr Ziel erreichen, für ein Haus aus festem Stein, für eine gute Schulbildung der Kinder, für einen Kühlschrank. Und vielleicht für einen Fernseher. Der senegalesische Autor Abasse Ndione, der selbst in einem der vielen winzigen, verarmten Fischerdörfer aufgewachsen ist, die er in seinen Romanen beschrieben hat, benötigt nicht viele Worte, hält sich nicht mit Umschreibungen und hübschen Nebensätzen auf, vielmehr erzählt er eine Geschichte, wie sie sich jetzt, in diesem Moment, da man die nächste Seite umblättert, hundertfach zuträgt. Es ist dem Transit-Verlag zu verdanken, dass man diese Stimme hört.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln