Zum Buch:
Marie NDiaye erzählt von der Pariser Juristin Norah, die auf Wunsch des Vaters in Dakar ihren Bruder aus dem Gefängnis holen soll, von der Lehrerin Fanta, die ihrem Mann aus Dakar in die französische Provinz gefolgt ist, und von Khady, der jungen Witwe, die von den Eltern ihres Mannes gezwungen wird, sich auf den gefährlichen illegalen Weg nach Europa zu machen.
Und sie erzählt von den dazugehörigen Männern: von Norahs Vater, dem Monster, der Norahs Mutter mit zwei Töchtern in Paris sitzen lässt und mit dem einzigen Sohn nach Dakar zurückgeht, der noch im Alter mit einer jungen Ehefrau Zwillingstöchter bekommt, die er im Zimmer einsperrt, der diese junge Ehefrau, die ein Verhältnis mit seinem Sohn hat, ermordet und den Sohn dafür ins Gefängnis gehen lässt, der immer mächtig war und erst im Alter seine ganze verheerende Schwäche offenbart. Sie erzählt in der zweiten, längsten Geschichte von Rudy, dem Mann von Fanta, von der wir nur durch ihn hören. Rudy, in Dakar noch Lehrer und in Frankreich Küchenverkäufer, ist auf ganzer Linie gescheitert, und während die Autorin mit höchster Kunstfertigkeit sehr allmählich die Geschichte seines Traumas aufdeckt, machen wir uns höchste Sorgen um die Frau, die hier in Frankreich völlig auf ihn angewiesen und ihm damit auch völlig ausgeliefert ist. Und schließlich erfahren wir noch von Lamine, dem Jungen, der Khady auf ihrer gefährlichen Reise beisteht und sie liebt, aber ihr schließlich doch das Geld stiehlt und damit letztlich für ihren Tod verantwortlich ist.
So beeindruckend die Frauenfiguren auch sind, Maire NDiaye hat keineswegs ein Buch über weibliche Stärke geschrieben, sondern ein bitterböses, verstörendes und faszinierendes Buch über Machtverhältnisse: zwischen Vätern und Kindern, Männern und Frauen, Franzosen und Migranten.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main