Zum Buch:
Wie kann man über die schrecklichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts schreiben – und darf man über den Schrecken lachen? Matthias Nawrats Roman „Die vielen Tode unseres Opas Jureks“ gibt Anlass zur erneuten Diskussion über diese Fragen. Erzählt wird die Geschichte Polens im 20. Jahrhundert anhand der Anekdoten und Geschichten einer Familie. Im Mittelpunkt steht Opa Jurek, der seinen Enkeln die Geschichte seines Lebens in vielen skurrilen Situationen mit Schwejk‘schem Schalk erzählt. Das Buch beginnt mit Opa Jureks Tod, der den Enkeln Anlass gibt, sich an die „vielen Tode“ zu erinnern, die ihr Großvater im Verlauf seines Lebens bereits gestorben ist. Erzählt wird die Geschichte nun aus der Perspektive der Enkel. Dabei bleibt während des gesamten Romans unklar, um wie viele es sich dabei handelt, ob es Mädchen oder Jungen sind. Klar ist nur, dass ihre Eltern nach Deutschland ausgewandert sind und die Enkel so ihren Großvater nur bei den Besuchen der Familie in den Ferien oder zu Feiertagen in Polen treffen.
Opa Jureks Lebensgeschichte beginnt in Warschau. Dort erlebt er die Besetzung durch die Nationalsozialisten. Er wird verhaftet und überlebt bis zum Ende des Krieges in Auschwitz. Nach dem Krieg wird Opa Jurek Leiter eines Delikatessengeschäfts und später eines Warenhauses in Opole. Mehr schlecht als recht versucht sich Opa Jurek zunächst mit der kommunistischen Führung der Stadt zu arrangieren, wird dann jedoch verhaftet und „Direktor“ einer Feriensiedlung. Weitere, herrlich charakterisierte Figuren bekommen einen Auftritt in Nawrats Roman. Oma Zofia, Jureks Frau, träumt jahrelang von einer Reise nach Paris, während sie kaum Zeit zum Schlafen findet, weil sie sich nicht nur um ihre Kinder, sondern auch um ihren Mann kümmern muss, den Haushalt besorgt und dabei auch noch arbeitet. Für Opa Jurek ist sie die ideale Ehefrau, da sie sich sogar in Zeiten äußerster Lebensmittelknappheit bemüht, mehrgängige Essen zusammenzustellen. Essen nämlich ist nach den Erfahrungen im Lager für Jurek zum wichtigsten Lebensinhalt geworden ist. Der Vater der Enkel hingegen träumt seit frühster Jugend von Kanada. Humorvoll, aber nicht weniger tragisch, wird erzählt, dass er Kanada nie erreicht – genauso wenig wie Oma Zofie jemals nach Paris reisen wird.
Interessant ist der Roman vor allem wegen seines Stils. Der gesamte Roman ist geprägt von Euphemismus und Bagatellisierung, was in scharfem Kontrast zum Gegenstand der Erzählung steht. Historische Ereignisse und Personen werden nicht beim Namen genannt, schreckliche Ereignisse stark verharmlosend dargestellt und stets steht die Pointe, das Groteske im Vordergrund der Erzählung. Nach seinem „Arbeitsaufenthalt“ in dem polnischen Ort Oświęcim zum Beispiel, dessen deutscher Name Auschwitz an keiner Stelle erwähnt wird, klagt Opa Jurek lediglich über die „miserable kulinarische Situation“. Der naive Ton, so erklärt es sich der Leser, findet seine Begründung in der Rahmengeschichte: Opa Jurek erzählt seinen Enkeln kindgerecht Anekdoten aus seinem Leben. Dabei bleibt immer deutlich, dass die Geschichten nur gehört wurden, dass sie nicht als absolute Wahrheit zu nehmen sind und dass es auch immer noch andere Möglichkeiten gibt, wie sie ausgegangen sein könnten.
Nawrat gelingt es in seinem Roman, den Ernst des Geschehens durch den scheinbar leichten Stil, in dem es geschildert wird, an keiner Stelle zu mindern. Dieser Stil wird die ganze Zeit durchgehalten, und den Leser, der die Technik schnell durchschaut, schaudert es nicht weniger, als wenn alle Schrecknisse beim Namen genannt worden wären. Der Humor der Familie aber, so scheint es, hat ihre Mitglieder während zweier totalitärer Systeme davor bewahrt, angesichts ihrer vielen schrecklichen Erfahrungen vor die Hunde zu gehen, und hat vermutlich wesentlich dazu beigetragen, dass Opa Jurek nur einen seiner vielen Tode sterben musste.
Alena Heinritz, Mainz