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Autor
Morrison, Toni

Rezitativ

Untertitel
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Nachwort von Zadie Smith
Beschreibung

Twyla und Roberta, beide 8 Jahre alt, eine weiß, eine schwarz, verbringen vier Monate zusammen in einem Kinderheim, bis sie wieder zu ihren Müttern zurückkehren und den Kontakt zueinander verlieren. Im Lauf der Jahre treffen sie sich sporadisch in einem Zeitraum von schätzungsweise Mitte der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre wieder; es sind Zufallsbegegnungen, die ganz unterschiedlich verlaufen, denn die Lebensläufe der beiden könnten nicht verschiedener sein. Was die beiden Frauen verbindet, ist ein Ereignis aus ihrer gemeinsamen Zeit im Kinderheim, das sie belastet und das sie nicht vergessen können.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Rowohlt Verlag, 2023
Format
Gebunden
Seiten
96 Seiten
ISBN/EAN
978-3-498-00364-7
Preis
20,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und diverse Essaysammlungen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics’ Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.

Zum Buch:

Twyla und Roberta, beide 8 Jahre alt, eine weiß, eine schwarz, verbringen vier Monate zusammen in einem Kinderheim, bis sie wieder zu ihren Müttern zurückkehren und den Kontakt zueinander verlieren. Im Lauf der Jahre treffen sie sich sporadisch in einem Zeitraum von schätzungsweise Mitte der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre wieder; es sind Zufallsbegegnungen, die ganz unterschiedlich verlaufen, denn die Lebensläufe der beiden könnten nicht verschiedener sein. Twyla, die Erzählerin, heiratet einen Arbeiter aus einer großen Familie, in der sie sich wohlfühlt, und ist trotz der durchaus bescheidenen finanziellen Verhältnisse glücklich mit Mann und Sohn. Roberta, bei der ersten Begegnung noch ein Hippiemädchen auf dem Weg nach Kalifornien, heiratet schließlich einen sehr reichen Witwer mit vier Kindern und führt ein Luxusleben mit allem, was dazu gehört. Was die beiden so verschiedenen Frauen verbindet, ist ein Ereignis aus ihrer gemeinsamen Zeit im Kinderheim, das sie belastet und das sie nicht vergessen können.

Toni Morrisons einzige Erzählung, die jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, ist nur knapp 44 Seiten lang, offenbart aber die ganze Kunst dieser großen Autorin, deren Lebensthema der Rassismus war. In Rezitativ dreht sie den Spieß um: Hier ist die Hautfarbe nicht das Problem der Protagonistinnen, sondern der LeserInnen, die zwar am Anfang erfahren, dass die beiden Mädchen verschiedene Hautfarben haben, aber bis zum Schluss nicht wissen, wer nun weiß oder schwarz ist. Immer wieder gibt es Hinweise auf Zugehörigkeiten zu den beiden Gruppen, die aber sofort wieder konterkariert werden: das Rätsel bleibt in der ganzen Erzählung ungelöst. Das löst eine Irritation aus, durch die man permanent mit den eigenen rassistischen Vorurteilen und Zuschreibungen konfrontiert wird und sich ständig selbst die Hautfarbe in den Mittelpunkt stellt, die für die Geschichte selbst gar nicht ausschlaggebend ist.

Es lohnt sich, Rezitativ zwei Mal zu lesen, um die andere, utopische Dimension der Erzählung zu erfassen: Die Utopie eines Lebens, in der schwarz oder weiß keine Rolle mehr spielen. Das macht das Leben und das Miteinander keineswegs frei von Schuld und Vorurteilen, macht aber den Blick frei für all die Graustufen, die das Miteinander jenseits von Rasse trüben.

Das schmale Büchlein ist ein Meisterwerk, das Schullektüre werden sollte. Allerdings empfehle ich dringend, das – sehr ausführliche (mehr als 40 Seiten lange) – Nachwort von Zadie Smith nicht sofort im Anschluss an die Lektüre der Erzählung zu lesen. Rezitativ ist eine unglaublich berührende und faszinierende Erzählung und gleichzeitig eine so wunderbare wie nachdrückliche Aufforderung zum Nachdenken, dass zumindest ich eine literaturwissenschaftliche Analyse und Interpretation, so großartig sie auch sein mag, eher als Störung denn als Bereicherung wahrgenommen habe.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.