Zum Buch:
Irmgard Keun ist eine der namhaftesten Autorinnen der Weimarer Republik. Bereits ihr erster Roman wurde mit Brigitte Helm 1932 unter dem Titel »Eine von uns« verfilmt, und der zweite machte sie bis heute weltberühmt: »Das kunstseidene Mädchen«. Bekannt ist sie aber auch wegen ihrer Beziehung zu Joseph Roth, dessen Bücher wie auch ihre eigenen im nationalsozialistischen Deutschland verboten waren. Beide flohen ins Exil nach Ostende, wo sich bereits zahlreiche deutsche Autoren niedergelassen hatten – und mit ihnen Verleger und Lektoren. So auch der ehemalige Verlagsleiter von Kiepenheuer und Witsch, der in Amsterdam den deutschen Exilverlag Querido gründete. Hier publizierten u.a. Adorno und Horkheimer, beinahe sämtliche Manns und eben auch Joseph Roth und Irmgard Keun. 1938 erschien ihr Roman »Kind aller Länder«, der nun 2016 von der Keizersgracht 333 aus Amsterdam wieder nach Köln zum Kiepenheuer Verlag zurückgekehrt ist.
Wie schon in ihren vorangegangenen Romanen wählt Keun die Perspektive einer sehr jungen weiblichen Figur. Kully, die Protagonistin aus »Kind aller Länder«, ist mit ihren zehn Jahren – wie der Titel vermerkt – noch ein Kind und damit gut 10 Jahre jünger als Doris und Gilgi, die beiden Protagonistinnen aus den vorangegangenen Romanen. Sie ist mit ihren Eltern nach Belgien geflohen und lebt in wechselnden Hotels, dauernd in Geldnöten, auf den Vater wartend, der als Schriftsteller auf der Suche nach seinen Verlegern und neuen Geldgebern, auf der Suche nach neuen Vorschüssen durch Europa tingelt und dabei auch amourösen Abenteuern nicht abgeneigt ist. Mutter und Tochter sind dazu verdammt zu warten, zu hoffen, sich aushalten zu lassen in Restaurants und Hotels, bis der Geldgeber, der Vater, kommt und sie auslöst. Ihre Odyssee beginnt in Ostende, führt über Brüssel und Paris nach New York, wobei die Mutter wie ein Gepäckstück vergessen wird und nicht nachreisen kann, weil das Geld fehlt. Vater und Tochter reisen quer durch Amerika nach Virgina Beach und schließlich wieder zurück nach Amsterdam. Dass auch das nicht das Ende der Flucht sein wird, ist offensichtlich, und dass dieses »Kind aller Länder« das Wort Heimweh bekommen muss, ist nur logisch. Wie soll sich bei jemanden ein solches Gefühl einstellen, wenn er das Objekt der Sehnsucht, die Heimat, nie kennengelernt hat. Oder in den Worten Kullys: „Manchmal habe ich Heimweh, aber immer nach einem anderen Land.“
Aus diesen Erfahrungen des Exils, aus diesem Leben jenseits der Nationen, die zugleich mit ihren strengen Gesetzen das Leben der Heimatlosen gnadenlos beherrschen und zerstören, sind unschwer Keuns eigene Erfahrungen und Entbehrungen herauszulesen. Möglicherweise ist das Elternpaar als alter ego des Paars Roth-Keun zu deuten. Durch die Perspektive des Kindes, die Keun wählt, wird die unerträgliche Ungewissheit der Exilanten einerseits beinahe schwerelos und schicksalsergeben vermittelt (können sich Kinder doch in jede Situation beinahe mühelos einfügen, so lange Vater oder Mutter ihnen einen gewissen Halt zu geben vermögen), andererseits verstärkt sich aus diesem kindlichen Blickwinkel, der noch keine Zusammenhänge, keinen Überblick kennt, die Macht des Schicksals. „Meine Mutter will manchmal sterben, dann hat sie Ruhe und keine Angst mehr. Aber sie weiß nicht, was dann aus mir werden soll. Ich will noch nicht sterben, weil ich noch ein Kind bin. Meine Mutter möchte Zimmermädchen sein und arbeiten, damit sie Geld verdient. Aber die Länder erlauben es ihr nicht, dass sie ein Zimmermädchen ist.“ Dieses Warten, dieses endlose, unerträgliche Warten darauf, dass das Leben endlich losgeht, dass man endlich eine Heimat hat – das vermittelt Keuns Roman heute genauso wie schon 1938. Auch ohne die neue europäische Flüchtlingskrise wäre »Kind aller Länder« überaus lesenswert gewesen, so aber bekommt der Roman eine Aktualität, die man dem Thema eigentlich nicht mehr gewünscht hätte.
Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt