wunnicke

Drucken

Alle Empfehlungen

Autor
Ilitschewski, Alexander

Der Perser

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Beschreibung

Auf der Shortlist für den Internationalen Literaturpreis 2016

Beließe man es bei der Aufzählung einiger Themen, die Alexander Ilitschewski in seinem Roman „Der Perser“ behandelt – Tulpenzucht, der Ursprung des Lebens, Erdöl, die sowjetische und islamische Geschichte Aserbaidschans, Falkenjagd, radikaler Islamismus, eine Philosophie des Sehens, die Vereinigung von Kunst und Leben, Religion und Naturwissenschaft – könnte dieses Romanmassiv als anmaßend, enzyklopädisch, ja als langweilig abgetan werden. Dem Autor jedoch gelingt es in der Manier eines großen Romanciers, einen Bogen zu spannen, der so überzeugend wie bezaubernd ist.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2016
Format
Gebunden
Seiten
750 Seiten
ISBN/EAN
978-3-518-42499-5
Preis
36,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Alexander Ilitschewski, 1970 in Sumgait/Aserbaidschan geboren, wuchs in Moskau auf und studierte dort Mathematik und Theoretische Physik. Nach Arbeitsaufenthalten in Israel und den USA kehrte er 1998 nach Russland zurück. Sein umfangreiches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Der Roman Matisse (2006) erschien in diesem Jahr auf Deutsch. Der Perser (2012), sein Hauptwerk, wird zurzeit in mehrere Sprachen übersetzt. Seit 2013 lebt Ilitschewski in Jerusalem.

Zum Buch:

Der erfolgreiche Geologe Ilja Dubnow verlässt Ende der 1990er Jahre die USA, in die er Anfang der 1990er Jahre emigrierte, und reist über Amsterdam und Moskau nach Aserbaidschan, dorthin, wo er aufgewachsen ist. In Aserbaidschan kommt er wieder in die Orte seiner Kindheit, auf die Abşeron Halbinsel und die Insel Pirallahi, die zu sowjetischen Zeiten noch Artjom hieß. Dort erinnert er sich an die Spiele, die seine Kindheit geprägt haben. Sein bester Freund Haşem, Sohn iranischer Flüchtlinge, spielt dabei eine zentrale Rolle. Gemeinsam mit ihm errichteten sie zum Beispiel auf Artjom ein kleines Holland, spielten Geschichten aus der Zeit des Spanisch-Niederländischen Krieg nach und beschäftigten sich mit der Tulpenzucht.

Nun trifft er Haşem, „den Perser“, wieder. In der aserbaidschanischen Şirvan-Steppe leitet der eine Wildhüter-Kommune, die sich um den dortigen Naturpark kümmert. Die Heger versorgen und beobachten die heimischen Tiere und verdienen Geld mit dem Verkauf gezähmter Falken. Zugleich versuchen sie zu verhindern, dass die dort lebende Trappenpopulation durch die Falkenjagd saudischer Scheichs gefährdet wird. In regelmäßigen Abständen aber ruft Haşem alle Heger zusammen, liest ihnen Lyrik vor und bespricht die gelesenen Texte. Alle diese Sitzungen beginnen und enden mit einer sakral anmutenden Chlebnikow-Lesung. Haşems Verehrung für den Dichter geht so weit, dass er Tiere – ein Kamel, Schildkröten – mit den Versen des Dichters bemalt. Welimir Chlebnikow, der den kaspischen Raum auf Reisen kennengelernt hatte, ist für Haşem die leitende Gestalt seines Lebens und ihm in Genialität und Größenwahn Vorbild.

Einst in ihrer Jugend hat Haşem Ilja, der sich eigentlich mehr fürs Segeln interessierte, dazu überredet, bei einem Theaterstück über den futuristischen Dichter Welimir Chlebnikow mitzuspielen. Haşem übernahm die Rolle Chlebnikows, und er steigerte sich bis in den Wahn in die Identifikation mit dieser Figur hinein. Ilja sollte den Iranisten Abich spielen, Chlebnikows Evangelisten, der seinen Freund begleitete und beobachtete, dessen Werke systematisierte und kommentierte und seine Eindrücke in zahllosen Tagebuchnotizen festhielt. Diese Figuren wachsen an ihnen fest: Haşem lebt sich ein in seine Rolle als verrückt-genialer Prophet, während Ilja ihn – mal mit Bewunderung, dann wieder mit Befremden – studiert.

Der zurückgekehrte Ilja schließt sich Haşem und den Hegern an und lebt fortan im Naturschutzgebiet. Dort lernt er das Abrichten von Falken für die Jagd kennen und die heimischen Tiere und Pflanzen. Dabei verliert er sein eigentliches Anliegen nicht aus den Augen: Er ist auf der Suche nach der Urform des Lebens, die er auf der Halbinsel Abşeron zu finden hofft. Diese vermutet er in Form von Mikroorganismen im Erdöl unter der Steppe. Haşem hat auf seine Art ein ganz ähnliches Anliegen: Er strebt nach einer modernisierten Religion, die alle Religionen verbindet und wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ausschließt. Er glaubt, dass das Wesen des Menschen und das Geheimnis Gottes mit Hilfe einer Synthese aus Wissenschaft und Poesie zu ergründen sei.

Mit seiner Sprache gelingt es dem Autor, nachdenkliche Diskussionen in essayistische Exkurse zu überführen, ohne sich dabei von der Geschichte zu entfernen. So ist dieses Buch weit mehr als eine umfassende Einführung in Geschichte, Flora, Fauna und Geologie Aserbaidschans und seiner Bewohner. Ilitschewski beherrscht die Sprache der großen Romane: federleicht und prägnant ist sie in den Naturbeschreibungen, wie eine präzise naturwissenschaftliche Zeichnung, die aber eine Ausstrahlung hat, dass man ihr Kunstcharakter zuschreiben möchte. Der Rhythmus trägt die Geschichte, wird hastig: Um die Atmosphäre in einem Zug auf der Strecke Moskau – Baku zu beschreiben, wird die Erzählung auf eine Aufzählung von Sinneseindrücken, Tätigkeiten und Gegenständen reduziert, wodurch ein hohes Maß an Unmittelbarkeit entsteht. Dann wieder werden gemessen und sachlich Biografien, Charaktere und ihre philosophischen, kunsttheoretischen und theologischen Diskussionen vor dem Leser ausgebreitet. Erzählt wird die Geschichte größtenteils aus der Perspektive Iljas, die jedoch zuweilen von der anderer abgewechselt wird. Darüber hinaus erweitert Iljas besondere Begabung, tektonische Verschiebungen, Meeresklänge und das Öl zu hören, die Erzählung um ungewöhnliche Dimensionen.

Es steckt nicht weniger als eine ganze Welt in diesem Buch, und so liest es sich langsam, denn die Geschichte breitet sich in viele Erzählfäden aus, die dann zuletzt zusammengeführt werden. Wer sich nach der Lektüre noch nicht von der Welt des „Persers“ trennen möchte, seien die Bildern und Kommentare „aus dem Arbeitsjournal des Übersetzers“ auf der Internetseite des Suhrkamp-Verlags empfohlen. Oder er lese den Roman einfach wieder. Und wieder.

Alena Heinritz, Mainz