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Autor
Ilitschewski, Alexander

Matisse

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Valerie Engler und Friederike Meltendorf
Beschreibung

Koroljow ist ein Physiker Mitte Dreißig. In der Nachwendezeit muss er sich allerdings, wie die meisten Akademiker zu dieser Zeit, mit ständig wechselnden Gelegenheitsjobs durchschlagen. Auch seine Freundschaften und Lieben sind nicht von langer Dauer. So führt er – auch wenn er eine Wohnung hat – ein Leben ohne festen Wohnsitz. Vielleicht ist er deshalb so freundlich zu den Obdachlosen, die nachts im Winter im Hausflur vor seiner Wohnungstür einen warmen Ort zum Schlafen suchen. Eines Tages beschließt Koroljow, selbst einer von ihnen zu werden. Auch der Autor Alexander Ilitschewski, geboren 1970 in Aserbaidschan, arbeitete zunächst als Mathematiker und Physiker; heute gilt er als einer der vielversprechendsten russischsprachigen Autoren.
(ausführliche Besprechung unten

Verlag
Matthes & Seitz Verlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
427 Seiten
ISBN/EAN
978-3-95757-003-1
Preis
26,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Geboren 1970 in Aserbaidschan, studierte Mathematik und Theoretische Physik an der Lomonossow-Universität in Moskau, wo er nach Abschluss des Studiums auch als Dozent tätig war. Es folgten lang jährige wissenschaftliche Arbeitsaufenthalte in Israel und Kalifornien, erst 1998 kehrte er nach Russland zurück. Seit den neunziger Jahren veröffentlichte er Zeitungsartikel, Essays und Romane, die mit zahlreichen Preisen, unter anderem mit dem Russischen Booker für den Roman »Matisse« ausgezeichnet wurden. Seit 2013 lebt Ilitschewski in Jerusalem.

Zum Buch:

Koroljow ist ein Physiker Mitte Dreißig. In der Nachwendezeit muss er sich allerdings, wie die meisten Akademiker zu dieser Zeit, mit ständig wechselnden Gelegenheitsjobs durchschlagen. Auch seine Freundschaften und Lieben sind nicht von langer Dauer. So führt er – auch wenn er eine Wohnung hat – ein Leben ohne festen Wohnsitz. Vielleicht ist er deshalb so freundlich zu den Obdachlosen, die nachts im Winter im Hausflur vor seiner Wohnungstür einen warmen Ort zum Schlafen suchen. Eines Tages beschließt Koroljow, selbst einer von ihnen zu werden. Auch der Autor Alexander Ilitschewski, geboren 1970 in Aserbaidschan, arbeitete zunächst als Mathematiker und Physiker; heute gilt er als einer der vielversprechendsten russischsprachigen Autoren.

Für Koroljow wird der Alltag im Russland der Nachwendezeit mehr und mehr zum Hamsterrad. Das wirkliche Leben wird ihm zu einem fernen Ziel, und nur in der Abkehr von der Gesellschaft meint er, noch Freiheit finden zu können. Also trainiert er, dann packt er einige überlebensnotwendige Dinge in einen Rucksack, wirft seinen Wohnungsschlüssel in einen Fluss und lebt fortan auf der Straße. Seine Wandlung vom gewöhnlichen Bürger zum Obdachlosen vollzieht sich allmählich, in mehreren Stufen.

Als Koroljow beschließt, sein geregeltes Leben aufzugeben, um fortan auf der Straße zu leben, stellt sich die Frage, wie sehr er den anderen Obdachlosen ähnelt oder sich von ihnen unterscheidet. Er entscheidet sich bewusst und reflektiert für das Leben auf der Straße, nicht aus einer materiellen Notlage heraus. Sein Rucksack unterscheidet ihn von den anderen Obdachlosen. Er hat noch seine Papiere, seine Wohnung und sein Auto. Als er eines Tages jedoch in seine Wohnung zurückkehren will, stellt er fest, dass sich sein ehemaliger Chef – der ihn schon damals bis aufs Blut ausgenutzt hat – seine Wohnung angeeignet hat. Seitdem er das weiß, ist er genauso bedingungslos Vagabund wie die anderen Stadtstreicher Moskaus. Er schließt sich dem wohnungslosen Paar Wadja und Nadja an und überzeugt sie, Moskau zu verlassen. „Das Gelobte Land“ möchte er erreichen, aber dann findet er schon im ländlichen Russland Frieden.

Der externe Erzähler fokussiert zumeist auf die Perspektive Koroljows. Nur manchmal bekommt der Leser auch Einblicke zum Beispiel in das Bewusstsein Nadjas, deren eigene Art der Weltwahrnehmung auf großartige Weise vermittelt wird. So nimmt der Leser etwa teil daran, wie sie stundenlang ein Insekt beobachtet und wie sich in ihrer Vorstellung die Dimensionen verschieben, wie das Tier sie – wie in den russischen Sagen – in ferne Länder trägt oder bedrohliche Ausmaße annimmt.

Die Frage, inwieweit der Mensch mit seiner Geschichte und der seiner Gesellschaft verbunden ist, zieht sich durch den gesamten Roman. In den geheimen Ausläufern der Metrotunnel Moskaus findet Koroljow Stationen der Geschichte Moskaus und versucht, sie in Bezug zu sich selbst und seinem Schicksal zu setzen. Darüber hinaus sind besonders Gerüche für ihn ein Fenster in die Vergangenheit. Sie geben ihm und seinem Körper einen Platz in der Zeitlichkeit. Aber nachdem er von Milizionären verprügelt worden ist, verliert er den Geruchssinn. Damit geht ihm auch die Fähigkeit der Erinnerung verloren. Er wird zu einem zeitlosen Wesen und lebt nur im Zyklus der Jahreszeiten: Im Sommer gibt es Nahrung und Wärme, für den Winter muss ein Quartier gefunden werden.

Matisse, der titelgebende Maler, taucht als verhaltenes, beinahe unscheinbares Motiv immer wieder einmal auf, ohne als solches explizit ausgedeutet zu werden. Nadja besitzt einen Kunstband über Matisse, den sie wie eine schützende Ikone stets mit sich herumträgt. Koroljow träumt immer wieder von Matisse. Die Kunst ist für Koroljow Grund zu der Hoffnung, dass auch unbelebte Materie vom Bewusstsein belebt werden kann, das dann den Tod überwindet. So wird Matisse zu einem Symbol der Verheißung, die für Koroljow immer greifbarer wird, sodass er schließlich seinen Frieden finden kann. In eben dieser verhaltenen Manier stellt Ilitschewski in seinem Roman tiefe Trostlosigkeit neben die schüchterne Hoffnung auf einen Ausweg. Die Sprache, die der Autor für diesen zarten Versuch der Rettung neben den groben Voraussetzungen findet, macht seinen Roman zu großer Literatur.

Alena Heinritz, Mainz