Zum Buch:
Mit „Youma“ hat der griechisch-englische Autor Lafcadio Hearn ein erstaunliches Buch geschrieben: eine 119 Seiten lange (Nachwort und Anmerkungen nicht mitgezählt) spannende, wunderschön erzählte Geschichte, in die ein Stück Sozialgeschichte einer untergegangenen Gesellschaft und eine kleine anthropologische Studie dicht verwoben ist. Das Buch verbindet ein hohes Maß an Informationen mit einer persönlichen Geschichte auf eine Weise, die es schwer macht, den Inhalt wiederzugeben, ohne fast das ganze Buch zu erzählen.
Youmas Mutter war eine „Da“, die farbige Amme der Kinder ihrer weißen Herren, die in der Sklavenhaltergesellschaft von Martinique eine herausgehobene Stellung innehatte und häufig hochgeachtet bis zu ihrem Tod mit der Familie zusammen lebte.
Nach dem Tod ihrer Mutter wächst die fünfjährige Youma zusammen mit ihrer „Ziehschwester“ Aimee auf. Sie erhält wie diese eine gute Erziehung, wird aufwändig gekleidet und lebt wie ein Familienmitglied. Lesen und Schreiben wird ihr nicht beigebracht. Sie wird zur vertrauten Freundin Aimees und geht nach deren Heirat mit ihr auf das Gut ihres Mannes. Als Aimee kurz nach der Geburt ihrer Tochter stirbt, wird Youma Mayottes „Da“. Sie lebt nur für dieses Kind und ist die wichtigste Bezugsperson des kleinen Mädchens.
Dann beginnt Gabriel, der Vorarbeiter der Plantage, um sie zu werben, und Youma verliebt sich in ihn. Als ihre Herrin die Heirat untersagt, wird ihr zum ersten Mal deutlich bewusst, dass sie zwar unter den Sklaven eine herausragende Stellung innehat, aber dennoch nie selbst über ihr Leben entscheiden können wird. Sie gerät in einen tiefen Loyalitätskonflikt. Als auf der Insel Aufstände gegen die Sklavenhalter ausbrechen, muss Youma entscheiden, welcher Seite sie sich zugehörig fühlt: ihrem versklavten Volk oder ihren weißen Herren und ihrem kleinen Ziehkind Mayotte.
Lafcadio Hearn war viele Jahre nach den Ereignissen, die er in „Youma“ schildert, für längere Zeit auf Martinique und von der Insel und ihrer Bevölkerung bezaubert. Mit wehmütigem Blick betrachtet er, was durch den Umsturz untergegangen ist. Trotzdem vermeidet er in seiner Geschichte grobe Vereinfachungen und benennt die Auswüchse der Sklaverei und deren Folgen deutlich. Der wirtschaftliche Niedergang der Insel hat Weiße und Schwarze gleichermaßen getroffen. Für die ehemaligen Sklaven wurde die Abhängigkeit von ihren weißen Herren durch die Abhängigkeit vom freien Markt ersetzt.
Durch die Perspektive eines Autors, der um 1890 Geschehnisse beschreibt, die rund fünfzig Jahre zuvor stattfanden, entsteht für den heutigen Leser ein eigentümliches Spannungsverhältnis. Hearn spricht ganz selbstverständlich von „Negern“ und ihrem Charakter – damals gebräuchliche Formulierungen, hinter denen man aber heute schnell politische Unkorrektheit und Rassismus wittert. Dank seiner wunderbaren Sprache und eindringlichen Erzählkraft wirkt dies jedoch nicht störend, sondern verstärkt den Aspekt der kulturellen und zeitlichen Fremdheit. In seinen Schilderungen der Landschaft und der Menschen spürt man eine tiefe Liebe zu Landschaft, Kultur und Bevölkerung der Insel, und das liest sich ganz wunderbar!
Ruth Roebke, autorenbuchhandlungmarx&co, Frankfurt