Zum Buch:
Der Mensch ist kein Einzelgänger, er ist ein Gemeinschaftswesen. Das wissen wir alle. Wie findet er eigentlich seinen Platz in der Gemeinschaft, den Platz, wo er gebraucht wird, wo er Anerkennung findet? Diese Frage kann jeder mit ganz persönlichen Erfahrungen beantworten, denn sie ist nicht neu: Die Frage prägt unsere Gesellschaft vielmehr entscheidend, aus ihrer Beantwortung ergeben sich Miteinander, Einsamkeit, Regeln, Entscheidungen, Verstöße, Schuld, aber auch Liebe und Frieden. Karin Fossum greift in ihrem Roman “Dunkler Schlaf” Themen auf, die alltäglich sind, gleichzeitig aber an die Substanz menschlichen Lebens gehen. Entsetzlich ist es, aber irgendwie nicht erstaunlich, dass im Verlauf ihrer Geschichte Menschen ihr Leben lassen, gut ein halbes Dutzend, durch eine Verkettung teuflischer Zufälle, in einem Zeitraum von gerade mal elf Tagen. Konrad Sejer, der imposant große und sehr schmale Held des Romans, ist Kommissar in Oslo. Der zurückhaltende Mann versteht sein Handwerk: Er hat die Intuition, das Einfühlungsvermögen, sowohl dem Opfer zu helfen, als auch die starke Schulter für denjenigen zu sein, der mit seiner Schuld wird leben müssen. Sejer steckt mitten in der Arbeit an einem tragischen Mordfall, als Andreas Winther verschwindet und von seiner Mutter als vermisst gemeldet wird. Andreas ist ein Junge aus normalen Verhältnissen, wohnt bei der Mutter, geht arbeiten. Doch der hübsche junge Mann ist ziellos, sucht nach dem, was in ihm ist und hat vor allem Langeweile. Mädchen interessieren ihn nicht, mit seinem Kumpel Zipp teilt er das, was er verdient, meistens gehen sie Bier trinken, rauchen, sehen Videos. Geld ist nie genug da. Da liegt es nahe, sich an wehrlosen Kindern, jungen Müttern oder auch älteren Damen zu versuchen. Zipp war in der Nacht, als Andreas verschwand, mit ihm zusammen, er weiß, wie alles aus dem Lot geriet und sich zu einer Katastrophe entwickelte. Irma Funder weiß sogar noch mehr. Sie weiß, wo Andreas ist. Die etwas sonderbare Einzelgängerin sollte das nächste Opfer der Jungs sein, eine ältere Dame als Spielzeug, der man vielleicht etwas Geld abnehmen kann. Zipp und Andreas waren in jener Nacht auf dem Weg zu etwas unvorstellbar Entsetzlichem, vor allem auf einem Weg ohne Zurück. Auf den ersten Blick eine typische detective story, ein Kommissar, ein Fall, Ermittlungen, und dennoch ist das Buch der norwegischen Autorin mehr psychologischer Roman als Krimi. Karin Fossum, die vor ihrer schriftstellerischen Karriere als Krankenschwester in verschiedenen Kliniken und psychiatrischen Anstalten gearbeitet hat, versteht es, ihre Figuren sorgsam und schlüssig zu entwickeln. Wie durch einen Türspalt lässt sie den Leser in die alltägliche, sehr persönliche Welt der einzelnen Figuren blinzeln; schnell werden Irma, Andreas oder auch Sejers Enkel zu Vertrauten, gut fünfzehn Personen lernt der Leser so kennen. Ungewöhnlich ist, wie Karin Fossum eine Ich-Erzählerin (Irma Funder) in den Mittelpunkt stellt, dann aber auch wieder aus der Sicht einzelner Figuren erzählt. Die Ich-Erzählerin ist dem Leser voraus, sie kennt die Geschichte und die Zusammenhänge. Es ergeben sich zahlreiche Rückblenden und häufige Perspektivwechsel – prägende Stilmittel des Romans und Garanten für einen enormen Spannungsbogen. Da Karin Fossum nur eine recht begrenzte Anzahl von Akteuren handeln lässt, mag man sich fragen, ob sich all diese teuflischen Zufälle tatsächlich so gehäuft ergeben können. Die Autorin hat diesen Mikrokosmos gewählt, und es schadet dem Roman nicht. Ein berührendes Werk über eine unfassbar hartherzige und abstoßend grausame Untat, sehr dicht und nah, mitfühlend und menschlich erzählt. Martina Morawietz, Köln.