Zum Buch:
Es ist eine große Herausforderung, das Denken und den Werdegang eines für sein Konzept der deliberativen Demokratie, für die Theorie kommunikativen Handelns oder jüngst für die Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Religion bekannt gewordenen Denkers wie Jürgen Habermas an einer spezifischen Stelle beginnen zu lassen. Ist es sein Studium der Philosophie und das Lernen bei dem Vertreter philosophischer Anthropologie und späteren Doktorvater Erich Rothacker, was den jungen Habermas entscheidend prägte? Ist es die Auseinandersetzung mit Martin Heidegger, die schon viel stärker im Modus philosophisch-politischer Intervention geschah? Oder ist es erst der Wechsel an das Frankfurter Institut für Sozialforschung und die zuvor schon begonnene kritische Aneignung der Marx’schen Theorie, also bereits die erste Reflexion und Revision der eigenen philosophischen Prägung, in der sich Habermas als der Wissenschaftler zeigt, der auch heute noch tätig ist?
Roman Yos begegnet dieser Herausforderung der Rekonstruktion eines Anfangs von Habermas Denken durch eine analytisch präzise Enthaltsamkeit. Seine strikt ideengeschichtliche Studie über die frühen Jahre von dessen philosophischer und publizistischer Aktivität gibt sich weder psychologisch motivierten Spekulationen über die Beweggründe ihres Gegenstands hin, noch folgt Yos einer Rekonstruktionsweise, die einzelne Motive zugunsten großer Thesen ausblendet. Das Buch ist in einen die Jahre 1952-1956 umfassenden und vor allem chronologisch vorgehenden Abschnitt über Habermas‘ Denkmotive und einen die Jahre 1956-1962 umfassenden und bereits stärker systematisierten Abschnitt über dessen Denkwege unterteilt. Die ideengeschichtliche These erschöpft sich weitestgehend in dieser Unterscheidung zwischen disparaten Motiven, die sich nur an wenigen Stellen zusammenfügen, auf der einen und der Benennung klarer erkennbarer Denkmuster auf der anderen Seite. Erst – und so darf vermutet werden: nur – durch diese defensive Art und Weise, sich dem Gegenstand anzunähern, kann aber die Geschichte des Habermas’schen Denkens in all ihren Facetten gezeigt werden. Yos erinnert in seinem Buch beispielsweise an Habermas‘ Reflexionen über die ästhetischen Implikationen des Mediums Radio für das Hörspiel oder an die kaum bekannte Dissertation über Schelling. Dabei lässt er keineswegs den Verdacht aufkommen, in dem einen oder anderen Thema könne man den späteren Habermas bereits in allen Facetten vorgezeichnet sehen. Zugleich rekonstruiert er die Schriften und ihre Entstehung aber sorgfältig genug, um den heutigen Habermas in ihnen dann wiederfinden zu können, wenn sich Verwandtschaften von Denkrichtungen abzeichnen.
Die gute lesbare Studie ist, anders könnte es bei einem gelungenen Text über diese Phase im Leben des Philosophen auch nicht sein, zugleich ein treffend gezeichnetes Panorama der sich gerade erst ihrer Vergangenheit vergewissernden Bundesrepublik. Habermas‘ kritische Auseinandersetzung mit personellen und geistigen Kontinuitäten des Nationalsozialismus über 1945 hinaus nicht allein als Symptom dieser Zeit, sondern als einen reichen, komplexen Denkweg zu rekonstruieren, das ist die unbestrittene Leistung der lesenswerten Studie von Yos.
Tobias Heinze, Karl Marx Buchhandlung, Frankfurt