Zum Buch:
In Zeiten des E-Books stechen sie umso stärker ins Auge: Bücher, deren materielle Seite mit der Geschichte, die sie beherbergen, korrespondiert. So ein Buch ist Sandra Weihs preisgekrönter Debütroman „Das grenzenlose Und“. Auf dem schlichten Schutzumschlag prangt in der rechten unteren Ecke ein weißer Papierflieger. Schlägt man den Roman auf, zeigt sich eine Bauanleitung. Aus dem Buchdeckel, so legen es durchnummerierte gestrichelte Linien nahe, könne ein Flieger gefaltet werden. Ja, dieses Ding wird – surprise, surprise – eine Rolle spielen. Wichtiger und weniger offensichtlich dagegen: Damit ist die zentrale Thematik des Textes bereits vorweggenommen, bevor die Geschichte begonnen hat. Es geht um die Funktion von Nachahmung.
Sandra Weihs ist hauptberuflich Sozialarbeiterin. Als Schauplatz für ihr Debüt hat sie ein Milieu ausgewählt, das sie aus ihrem Arbeitsalltag kennt. Sie vollzieht dabei einen Perspektivwechsel, indem sie den Roman aus Sicht von Marie erzählen lässt, einer jungen Frau, die eine ihrer Klientinnen sein könnte. Marie hat kürzlich – wir sind in Österreich –die Matura abgelegt. Mit ihren 18 Jahren steht sie auf der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsenwerden. Sie blickt jedoch nicht in die Zukunft, sondern kämpft mit ihrer Vergangenheit. Die Erinnerungen an das zerrüttete Verhältnis zur Mutter schlagen buchstäblich Wunden. Marie leidet am Borderline-Syndrom, immer wieder fügt sie sich selbst tiefe Schnitte an den Armen zu. Nach einem Selbstmordversuch wohnt sie in einer betreuten Wohngemeinschaft und befindet sich bei einem Therapeuten, von ihr liebevoll Willi genannt, in Behandlung.
Der Roman setzt an einem Punkt ein, an dem Marie nur ein Ziel vor Augen hat: es noch einmal mit dem Selbstmord zu probieren, sobald die Therapie beendet ist. Warum sie damit noch wartet? „Ich will weg von den Kontrolleuren rund um mich, damit ich mich endlich in Ruhe und Frieden umbringen kann.“ Dem relaxten Suizid kommt jedoch eine Liebesgeschichte in die Quere. Bei Willi begegnet Marie Emanuel. Anders als sie hat er keine Wahl, ein Hirntumor lässt ihm nicht mehr viel Zeit. Ehe der Krebs ihm die Persönlichkeit und Würde raubt, will er seinem Leben selbstbestimmt ein Ende setzen. Marie soll ihm helfen, die Angst davor zu überwinden. Die beiden schließen daher einen Pakt: An ihrem Geburtstag im September werden sie sich zusammen umbringen. In den Sommermonaten, die ihnen bis dahin noch bleiben, entwickelt sich daraus selbstredend mehr als nur eine Zweckgemeinschaft.
Sterbehilfe und Suizid sind aktuell brisante ethische Fragen, aber der Roman will eine Debatte darum nicht führen. Die einzige Figur, die sich vehement gegen Emanuels Absichten ausspricht, ist seine religiöse Oma, eine ehemalige Puffmutter. Markanter hätte man die Gegenposition kaum karikieren können. Was Marie und damit den Text umtreibt, ist vielmehr die Frage: Wie wird man zu einem gesellschaftlichen Subjekt? Die psychische Erkrankung lässt sich auch als Metapher begreifen. Marie ist auch insofern eine „Borderlinerin“, als ihre biographische Situation sie vor die Entscheidung stellt, auf welche Weise sie sich zu einem Teil der Gesellschaft machen will. Weil Marie das Gefühl hat, nicht dazuzugehören, hadert sie mit ihrem Leben: „Niemand zeigt sein Innerstes, niemand ist authentisch, mit allen Konsequenzen, und das lässt einfach keine Veränderung zu.“
Mit Emanuel trifft Marie auf jemanden, der eine andere Haltung zu Authentizität an den Tag legt: „Beobachten und beschreiben, das macht einen Menschen aus, sagt er, was du siehst, bist immer auch ein bisschen du selbst.“ Unter dem Deckmantel einer Liebesgeschichte kommt ein Bildungsroman neueren Typs zum Vorschein. In dieser Hinsicht ist Sandra Weihs ein stringentes und kluges Debüt gelungen. Kraft seiner Figuren und Symbolik führt es variantenreich vor Augen, wie Identitätskonstitution zu denken ist. Wohin Marie die Spur führt, auf die Emanuel sie stößt, muss man jedoch selbst herausfinden.
Malte Kleinjung, Frankfurt am Main