Zum Buch:
Bekannt geworden ist der irische Autor Colm Tóibín, trotz vorheriger Veröffentlichungen, hier erst vor vier Jahren mit seinem grandiosen Henry-James.Roman Bildnis des Meisters in mittleren Jahren. Darin umreißt er auf 432 Seiten einen Abschnitt im Leben des Schriftstellers. Nun ist auf Deutsch ein Band mit Erzählungen von ihm erschienen. Auch diese kurzen Geschichten beleuchten einen Abschnitt im Leben von Menschen und es ist erstaunlich, dass Tóibín seine Kunst, unter einer ruhigen Oberfläche tiefe Verwerfungen im Leben der Protagonisten zu beleuchten, ohne sie auszubreiten, auch auf jeweils wenigen Seiten entfalten kann.
Toibin erzählt von einer Mutter, die wider Willen erfolgreiche Geschäftsfrau wird, von einer Sängerin, die nicht mehr singen will, von alten Frauen, die die Wahrheit über ihre Söhne nicht sehen wollen, von einer Frau, die das Schweigen in der Familie zur Alkoholikerin macht. Die Söhne sind Kinder auf der Schwelle zur Pubertät, Jugendliche, ein Dieb, ein Priester auf Abwegen. Das Verhältnis, das sie zueinander haben, ist kompliziert, wenn es denn überhaupt eines ist. Es wird verlassen, gestorben, betrogen, verleugnet. Es sind mehr oder weniger alltägliche Dramen, die sich abspielen, dennoch sind die Geschichten völlig undramatisch. Was es an Schuldgefühlen, Wut, Verlassenheit, Ängsten, Hoffnungen und Freuden gibt, bleibt unter der Oberfläche. Die Figuren entblößen sich nicht und die Geschichten brechen oft unvermittelt ab. Die Emotionen entstehen beim Lesen im Leser. Da verhaken sie sich und lassen einen nicht so schnell los. Ich habe mich noch Tage nach dem Lesen dabei ertappt, das jeweilige Vorher oder Nachher einer Geschichten weiterzuspinnen. Etwas Schöneres kann einem mit einem Buch doch nicht passieren!
Ruth Roebke, Autorenbuchhandlung Marx & Co., Frankfurt