Zum Buch:
Christian, Dana, Mitch und Franz sind bei ihren Müttern aufgewachsen, die GI-Väter abwesend, im fernen Amerika. Ihre Mütter hatten die kurzen Liebschaften mit den Besatzern entweder tunlichst verdrängt oder sich – noch jung – rebellisch gegen ein traditionelles Familienleben entschieden.
Vaterlosigkeit und ein Gefühl der Unvollständigkeit, das ist es, was die vier fast Erwachsenen in einer hessischen Kleinstadt seit ihrer Kindheit verbindet. Immer wieder von Mitschülern gehänselt, verunsichert oder extra stark, sind sie auf mehr oder weniger prekären Lebenswegen unterwegs. In dörflicher Umgebung war eine alleinerziehende Mutter auch in den 80er-Jahren noch ein Tabubruch, der gesellschaftlich unverhohlen geächtet wurde. Und so ist für sie alles Amerikanische, egal ob Coca Cola oder Mickey Mouse, von einem für andere unsichtbaren, leuchtenden Heiligenschein umgeben, der Widerhall ihrer väterlichen Seite.
In Christians Fall ist es ein eigensinniger Großonkel, der ihn und seine Mutter finanziell und moralisch gegen die Ablehnung der anderen unterstützt, den beiden bis zu seinem frühen Tod über Jahre den Rücken gestärkt hat. Dieser Onkel hat Christian, wie dieser spät und zufällig entdeckt, ein Sparbuch vererbt, mit einem Guthaben von fünfundzwanzigtausend Mark – Christians Tor nach Amerika. Das Ticket wird kurzerhand im Reisebüro gekauft – wie damals, in den Achtzigerjahren, noch üblich, das Amerikanistik-Studium lässt sich leicht unterbrechen, und der Rucksack mit einigen Habseligkeiten und dem einzig existenten Foto des fernen Vaters ist schnell gepackt. Ann aus dem Reisebüro hatte Christian nicht nur einen Konsulatstermin für das Visum verschafft, sondern ihn außerdem mit einer Kontaktadresse ihres Cousins Dustin in Chicago versorgt, bei dem Christian erstmal unterkommen solle und der ihm ganz sicher auch einen billigen Wagen verkaufen könne, unersetzliche Voraussetzung für den in der Phantasie geplanten Roadtrip. Nichts steht der Reise durch die amerikanischen Weiten mehr im Weg! Dass dieser Cousin zwar wirklich gastfreundlich, aber ein heruntergekommener und vom Leben enttäuschter Alkoholiker ist, das neu gekaufte Auto schon am zweiten Tag geklaut wird und es nahezu unmöglich sein wird, den Vater mit dem Allerweltsnamen Joe Miller (von denen es in den USA 13 624 gibt, wie Christian erfährt) zu finden, all das tut der Reise keinen Abbruch.
Wie sehr die Verbundenheit mit Mitch, Franz und Dana auch eine freundschaftliche Bürde war, wie sehr dieses Halb-Sein ihn darauf festlegte, unvollständig zu bleiben, ahnt Christian erst, als er aus der Distanz auf seine Kindheit und Jugend blickt. Dass ihn mit Dana, die sich nie auf ihre Identität als halbe Amerikanerin reduzieren lassen wollte, vielleicht mehr verbindet als eine Kinderfreundschaft, ist eine Erkenntnis, die sich dem mutig-naiv Reisenden erst nach und nach eröffnet.
Vier halbe Amerikaner ist eine oft skurrile, manchmal traurige, in vielen Momenten situationskomische Suche nach der eigenen Identität. Die Begegnungen mit amerikanischen, schießwütigen Großfamilien, einem hilfsbereiten Dorfpolizisten, einer im eigenen Leben verhedderten jungen Frau, deren Leben sich erst nach einem Autounfall mit umfassender Amnesie zum Besseren wenden wird, streifen die unendlich vielen Möglichkeiten von Lebensentwürfen. Es gibt Momente der Entzauberung und der naiven Verblüffung, die den Jahren der ersten Male und des Erwachsenwerdens so eigen sind. Aber auch spontane Sympathie und Freundschaft, die man dem ziemlich haltlosen Protagonisten von Herzen gönnt, sind Teil seiner Reise. Manchmal bedeutet Freiheit eine Fahrt durch die Weiten Amerikas oder die Entscheidung, in einem Outdoorshop zu zelten, manchmal besteht die größte Befreiung aber auch schlicht darin, einen lang gehegten Mythos zu entzaubern und zurückzulassen.
Carsten Tabel ist mit seinem hier empfohlenen Debütroman unter den Hotlistkandidaten der Bücher aus unabhängigen Verlagen gelandet.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt