Zum Buch:
Am 07. Januar 2019 meldete der Deutschlandfunk: „Die Fliege – ein Insekt von zweifelhaftem Ruf. Manchen gilt sie gar als Symbol des Bösen, als Tier des Teufels. Was also hat es zu bedeuten, wenn bald in Hannover um ein Porträt von Martin Luther fünf Fliegen kreisen?“ Wer auf diese ziemlich schräge Frage eine Antwort sucht, dem kann jetzt geholfen werden: Er oder sie findet sie und noch viele weitere Antworten auf bisher zumindest von mir nie gestellte Fragen im Buch Überfliegen der Kunsthistorikerin Katharina Sykora, einem Werk, in dem die Fliege, dieses so unscheinbare wie störende kleine Insekt, im Mittelpunkt steht.
Fliegen sind überall. Sie werden mit Fliegenklatschen und Klebebändern erlegt, erregen Ekel, wenn sie sich auf Speisen setzen, sind mit Aas und Verwesung assoziiert, werden aber wegen der zarten Schönheit ihrer Flügel und den komplizierten Facettenaugen auch bewundert. Und in der Kunstgeschichte, das lehrt uns Überfliegen, sind sie sogar eigenständige Protagonisten, sei es z.B. in Ella Bergmann-Michels Radierung „Mein neuer Arbeitsplatz“ von 1921, sei es in Carlo Crivellis „Madonna mit Kind“ (ca. 1480), sei es in barocken Stillleben oder in zeitgenössischen Installationen, etwa in „Orphan Patterns“ von Pierre Huyghe, in der sie selbst zu Künstlern werden. Auch in der Mode spielte die Fliege übrigens durchaus eine wichtige Rolle, ob als „Schönheitspflästerchen“ (unter dem französischen Namen „mouche“ = „Fliege“) oder Krawattenform (die lange vor Karl Lauterbach Karriere machte). „Fliegenlob“ und „Fliegentadel“ gibt es seit der Antike, die Fliege gilt als Symbol des Heldentums wie des Bösen – „Beelzebub“ heißt übersetzt: Herr der Fliegen. Womit wir also wieder bei Markus Lüpertz wären …
Überfliegen stellt das Insekt in entsprechend betitelten Kapiteln als Figur der Wahrnehmung, des Zeigens und der Zeit, des Wissens und der Ordnung und schließlich als Lockfigur vor. Dabei folgt der Text, so die Autorin, ausdrücklich keiner linearen Logik, und die Leser sind eingeladen, den Text zu „überfliegen“, das heißt, „im Text vor- und zurückzuspringen, ihren Abneigungen oder persönlichen Vorlieben nachzuspüren, neue Verbindungen herzustellen und sich jeweils ein eigenes Bild zu machen.“ So wird Überfliegen zu einer quasi schwirrenden Lektüre, bei der man sich in brillanten Bildbeschreibungen und -analysen verlieren, in Abbildungen schwelgen und von ungewohnten Verbindungen faszinieren und irritieren lassen kann. Überfliegen ist nicht immer leicht zu lesen und setzt mindestens Grundkenntnisse in und Interesse an Kunstgeschichte voraus. Aber dafür eröffnet es den Lesern einen ganz neuen Blick auf die Welt und schärft die Aufmerksamkeit für das Unvorhersehbare, „das sich … ereignet, bevor sich das Kleine in ein Ganzes fügt“. Und was könnte man mehr wollen?
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.