Zum Buch:
Am Abend, als die Familie aus einem gemeinsamen Urlaub zurückgekommen ist, verschwindet Thomas. Gerade haben Astrid und er noch zusammen im Garten gesessen und ein Glas Wein getrunken. Die beiden Kinder sind schon im Bett, Astrid ist ins Haus gegangen, um die Koffer auszupacken. Plötzlich steht Thomas auf, öffnet leise die Gartentür und geht. Er verlässt seine Frau und die Kinder und läuft los – ohne Ankündigung, ohne Plan, ohne Ziel.
Mit dieser verstörenden Szene beginnt das Buch, und auch im Folgenden wird nichts von dem, was geschieht, erklärt – weil auch die Protagonisten keine Erklärung für ihr Verhalten haben. Etwas hat in Thomas den Impuls ausgelöst, loszulaufen, dem er nun konsequent folgt. Nur mit dem ausgerüstet, was er gerade am Leib trägt, und der Geldbörse mit einigen Franken in der Tasche läuft er die Straße entlang, sucht dunkle Wege, um nicht gesehen zu werden, schläft im Wald, läuft weiter. Er vermeidet Ortschaften, kauft Nahrung am Automaten. Erst als das Bargeld aufgebraucht und er schon weiter weg ist, nutzt er seine Kreditkarte. Er deckt sich mit wetterfester Kleidung ein, kauft Lebensmittel und läuft ins Gebirge – weit über das Land. Er schläft in Hütten, meidet Menschen. Eine seltsame Leere und Ruhe kommen über ihn.
Astrid denkt, Thomas sei bereits schlafen gegangen, und realisiert erst am nächsten Morgen sein Verschwinden. Für kurze Zeit versucht sie, vor den Kindern, den Nachbarn und auch vor sich selbst verharmlosende, vernünftige Erklärungen zu finden. Irgendwann geht sie zur Polizei. Dort beruhigt man sie zunächst und stellt dann einige halbherzige Nachforschungen an. Als sie die Abbuchung der Kreditkarte entdeckt und damit klar wird, dass Thomas am Leben ist, versucht sie verzweifelt, ihm hinterher zu reisen. Erfolglos. Lähmung stellt sich ein, Die Scham, verlassen worden zu sein, ungläubige Verzweiflung.
Stamm erzählt Thomas’ und Astrids Leben abwechselnd aus deren Sicht. Durch die ersten Tage und Wochen, später Monate, dann Jahre. Ruhig und ohne zu urteilen beschreibt er, was diese eigentlich unfassbare Tat mit ihnen macht und wie gewöhnlich gleichzeitig ihr Leben weiter geht. Es gibt keine Zusammenbrüche, keine spektakulären Neuanfänge, keine Verwandlungen, keine Abenteuer. Stamm spielt mit Möglichkeiten: was Wirklichkeit ist und was Wunsch, steht gleichwertig nebeneinander. Der Autor umgeht damit eine Eindeutigkeit des Geschehens, die irgendwann langweilig würde, und das macht den Text, neben den präzisen Beschreibungen und der klaren Sprache, zu einer lange nachwirkenden Lektüre.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt