Zum Buch:
Sie haben Paris verlassen und sind Mitte der 1860er-Jahre vor dem Lärm der Großstadt aufs Land geflohen: die Brüder Jules und Edmond de Goncourt, Schriftsteller im Kreis von Mérimée und Flaubert. Zeit ihres Lebens teilen sie Haus und Beruf, zuweilen auch die Geliebte, sie sind unzertrennlich. Doch Jules wird auch in Auteuil von seiner Vergangenheit verfolgt. Und die Erinnerung an Rose, das Hausmädchen, deren wahres Leben sich erst nach ihrem Tod auftat, ist allzu lebendig …
Rose, die nicht kochen konnte, den Brüdern aber dennoch ans Herz gewachsen war, weil sie Jules und Edmond schon als Kinder gehütet hatte, „ihre“ Rose, „verlässlich wie ein Hofhund und beständig wie ein Möbelstück“, hinterlässt eine Lücke. Die Hausherren haben in der Pariser Zeit weder Roses Schwangerschaft noch ihre Trunksucht bemerkt, die nach dem Tod der kleinen Tochter einsetze. Bis kurz vor dem Tod der Haushälterin nahmen sie auch keine Notiz von Roses Erkrankung. Mit präzisen Strichen zeichnet Sulzer das Doppelleben der Magd, kontrastiert ihre tragische Verstrickung in Wunschtraum und Realität mit dem bourgeoisen Leben der Brüder.
Doch auch diese sind vor den gesellschaftlichen Fallstricken des 19. Jahrhunderts nicht gefeit. Jules Krankheit, an der halb Paris leidet und stirbt, das unübersehbare Fortschreiten von Gedächtnisverlust, Kopfschmerz und Lähmungen sowie die einsetzende Demenz – Edmond weigert sich, darüber zu sprechen, will nicht sehen, was im letzten Stadium der Syphilis mit seinem Bruder geschieht, glaubt fest an die heilende Wirkung der Bäder. Hinter den Fassaden der Belle Époque lauern ihre Abgründe. Auch in diesem Sinn wird der Titel des Romans lesbar.
Sulzer ist ein großartiges Genrebild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelungen, jedes Detail schimmert, jede Bewegung ist porträtiert. Szenen aus dem Leben der Arbeiterschaft werden neben bourgeoise Szenarien gestellt, oftmals miteinander verblendet – eine intensive Lektüre, ein sprachliches Meisterwerk!
Susanne Rikl, München