Zum Buch:
Douglas Stuart hat einen meisterhaft komponierten Roman über das Glasgower Proletariat der Thatcher-Ära geschrieben, über Alkoholismus und Familie, über Wohnprogramme und den Kampf des jungen Protagonisten Shuggie Bain um seine Mutter, um sein Leben. Shuggie ist noch nicht erwachsen, als der Roman einsetzt und er sein Leben in die Hand nimmt. Und auch wenn er nur am Supermarkt-Grillstand die Hähnchen aufspießt: Es ist ein Befreiungsschlag, beinahe ein Happy End.
In der Glasgower South Side beginnt der Roman, und in der South Side endet er. Dazwischen wächst Shuggie mit seinen älteren Halbgeschwistern Leek und Catherine und seinen Eltern Agnes und Hugh heran. Wir durchleben mit ihm ein familiäres und soziales Elend, wenn wir den Alkoholismus seiner Mutter, die Brutalität der Ehe sowie die unerträglichen Wohnbedingungen der 80er Jahre in Glasgow geschildert bekommen. Seine Mutter Agnes ist eine Schönheit und ewige Träumerin, der Vater Hugh ein Taxifahrer und Frauenheld, er wird die Familie verlassen, aber erst nachdem er die Träume seiner Ehefrau auf äußerst perfide Weise erfüllt hat.
Shuggie ist noch ein Kleinkind, als die Familie bei den Großeltern in Sighthill lebt, einer Siedlung mit 20-stöckigen Wohnblocks, die mittlerweile zum größten Teil abgerissen sind. So etwas wie Privatsphäre gibt es hier nicht, Agnes, immerhin schon 39 Jahre alt, möchte diesen Wohnblocks, diesem Leben entfliehen, „ein Leben auf Pump, wo nichts rechtmäßig ihr zu gehören schien.“ Umso glücklicher ist Agnes, als Hugh ihr endlich eröffnet, dass sie aus- und umziehen können, in ein eigenes kleines Reihenhaus – es ist ein Drecksloch in einer heruntergekommenen Arbeitersiedlung in Pithead bei einer stillgelegten Grube, eine Siedlung für lebendig Begrabene, für die Vergessenen der Gesellschaft, kein Zug, kein Bus hält hier. Hugh wird hier nie einziehen, er setzt seine Familie nur ab und fährt im Taxi davon, kommt nur gelegentlich wieder, um sich zu vergewissern, dass seine Frau ihn noch immer begehrt.
Agnes ertränkt ihr Elend im Alkohol, und Shuggie kämpft fortan um seine Mutter, kämpft um sich und sein Leben, denn gern gesehen sind sie in Pithead nicht – die Zugezogenen, die, die sich für was Besseres halten, Agnes, die sich immer herausputzt, diese Schönheit aus Glasgow, die sich zu fein ist, um sich mit den Frauen der Siedlung gemein zu machen, und Shuggie, dieser Junge, der lieber tanzt als Fußball spielt, der lieber die Haare seiner Mutter kämmt als den Mädchen nachsteigt.
Herzzerreißend, ohne rührselig zu sein, gelingt es Douglas Stuart, die Geschichte des jungen Shuggie Bain zu schildern, die zugleich eine Geschichte des Glasgower Proletariats und seiner Wohnviertel ist, und in dieser Engführung von privatem und öffentlichen Raum, von privatem Elend und Wohnungspolitik ist Douglas Stuart tatsächlich ein großer Wurf gelungen: „Stuart has given Glasgow something of what James Joyce gave to Dublin“, stellt Eliza Gearty in der Zeitschrift Jacobin fest.
Douglas Stuart, der nicht über seinen Figuren steht, sondern sie aus der liebenden Perspektive des Kindes schildert, das er selbst war, ist diesem Elend – zumindest nach bürgerlichen Maßstäben – erfolgreich entkommen und ist mittlerweile Modedesigner in New York. Man könnte dem Roman vorwerfen, er sei zu perfekt ineinander gefügt, zu märchenhaft, zu ästhetisch, aber er ist seinen Booker Prize einfach wert.
Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co., Frankfurt