Zum Buch:
Die Welt hinter Dukla ist groß, unermesslich groß, und spätestens am östlichen Ufer des Bug beginnt für Andrzej Stasiuk das, was er „den Osten“ nennt. Stasiuk war viel unterwegs, aber erst 2006 fuhr er das erste Mal nach Russland, weil, so schreibt er, „… ich das Land sehen wollte, in dessen Schatten meine Kindheit und Jugend vergangen waren“. Deshalb kann man sein neuestes Buch durchaus auch als Essenz seiner bisherigen Expeditionen und der dabei gewonnenen Erkenntnisse bezeichnen. Seine Reisen beginnen im südlichen Ostpolen, seiner Wahlheimat und der Heimat seiner zwangsumgesiedelten Großeltern, und sie führen ihn schließlich bis nach China. Er ist mit dem Auto, der Bahn, zu Fuß und mit dem Flugzeug unterwegs. Er durchquert etliche mittlerweile eigenständige Länder der ehemaligen UdSSR und besucht Orte und Gegenden, die seit seiner Kindheit wegen ihrer klangvollen und geheimnisvollen Namen große Anziehungskraft hatten und Sehnsüchte weckten: Ulan Ude, Transbajkalsk, Chita, Altai, Charagun … Leider hält die Realität dem Zauber der klangvollen Namen nicht stand. Stasiuk beschreibt die Entmystifizierung und seine eigene Desillusionierung angesichts der Tristesse verfallen(d)er Industrieanlagen und Plattenbauten, sterbender Dörfer, zerstörter Landschaften und vielerorts orientierungsloser Menschen, von denen sich nicht wenige die Sicherheit und Überschaubarkeit sowjetischer Zeiten zurückwünschen. Verklärung der Vergangenheit, Hoffnungslosigkeit in der Gegenwart und Angst vor der Zukunft – eine depressive Mischung.
Das Reisen an sich ist wegen der immensen Entfernungen mühsam, und die Weite der über lange Strecken wenig abwechslungsreichen Landschaften verstärkt die Impressionen der Trostlosigkeit und Verlorenheit. Stasiuk ist hier ein Reisender durch Raum und Zeit. Er reflektiert Bilder und Erinnerungen aus seiner Kindheit und verbindet sie mit dem, was ihm bei den ausgedehnten Entdeckungstouren begegnet. Dabei sind die historisch-politischen Veränderungen immer präsent. Für ihn ist “der Osten” nicht bloß ein geographischer Raum, sondern der Begriff steht zugleich für eine Art Mentalität, Lebenseinstellung und Lebensart.
Zum Kristallisationspunkt von Stasiuks Erzählungen werden die Umwälzungen in der neueren Geschichte Polens und ihre konkreten Auswirkungen im Alltag, wie sie zum Teil seine eigene Familie ereilt haben: der kommunistische Totalitarismus der UdSSR und der nationalsozialistische Terror Deutschlands. Der Landstrich, den Timothy Snyder als die „bloodlands“ bezeichnet, heißt bei Stasiuk schlicht die „Leichenkippe“ im Osten. Stasiuk ist ein Spurensucher. Er durchwühlt die Sedimentschichten der Vergangenheit und ist immer bestrebt, den „Geist“ der Orte zu erfassen oder der Materie ihr Gedächtnis zu entreißen. Es sind die Ursachen und Gründe radikaler Veränderungen, die Bruchlinien in den menschlichen Lebensgeschichten, die ihn dabei besonders interessieren. Diese Perspektive macht Stasiuks Buch brillant. Sprachlich mal schnodderig, mal nahezu lyrisch, bleibt er immer eindrücklich. Auch wenn sein ernüchterndes Resümee wenig optimistisch stimmt, was die Zukunft „des Ostens“ angeht, ist dieses Buch großartige Literatur und rundum lohnende Lektüre!
Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen&Café