Zum Buch:
„Die Kontinente ziehen vorbei wie Felder und Dörfer an einem Zugfenster. Tage und Nächte, Jahreszeiten und Sterne, Demokratien und Diktaturen (…).“
Sechs Menschen, zwei Frauen und vier Männer, umrunden in einer Raumfähre an einem einzigen Tag 16-mal die Erde, erleben 16 Sonnenauf- und untergänge. Samantha Harvey hat ein beeindruckendes Kammerspiel über die menschliche Existenz geschrieben und wurde dafür im November mit dem diesjährigen Booker Prize ausgezeichnet.
Umlaufbahnen ist ein stilles Buch, das mit jedem Blick aus den Fenstern der Raumstation die großen Fragen der menschlichen Existenz berührt. Außer der teilweise minutiösen Beschreibung eines Tagesablaufs im All, mit allen wissenschaftlichen und technischen Aufgaben, die die AstronautInnen zu erfüllen haben, mit Sporteinheiten gegen Muskelabbau und Tierexperimenten, den Gesprächen, Gedanken und Träumen von sechs Menschen, hat der Roman keinen eigentlichen Handlungsbogen nötig.
Ein Erzählfluss, der losgelöst scheint von Zeit und Raum, wird von einer schwebenden, aber immer klaren Sprache vervollständigt, die beim Lesen ein Gefühl der Schwerelosigkeit erzeugt. Weltraumrealismus nennt Samantha Harvey ihren Weg des Schreibens. Schon als Teenager hatte sie Geschichten über die Raumfahrt gesammelt und nun im Lockdown weitergeschrieben bis zum beeindruckenden hier empfohlenen Roman. Was vielleicht aus Gründen des Eskapismus begann, mündet in ein großes Staunen über die gleichzeitige Dummheit und Genialität des Menschen. Man spürt Harveys Blick auf unsere Spezies, die zwischen Wut und Zärtlichkeit changiert.
Ganz nebenbei wird die Klimakrise und ihre fatalen Folgen für das fragile Gleichgewicht eines Planeten in die Handlung eingeflochten. Ein aus dem Weltraum zu beobachtender Super-Taifun ist Inbegriff der Naturgewalten, die der Mensch gedankenlos entfesselt hat. Die kurze Beschreibung eines Tsunamis, der Menschen, Autos und alles mit sich reißt, was im Weg steht, wird bar jeder Dramatik als logische Konsequenz der aktuellen Lage beschrieben. Umlaufbahnen ist eine 220-seitige Liebeserklärung an unseren Planeten, mit all dem, was Liebe im besten Fall umfasst: Verbundenheit, Verantwortungsgefühl, Bewunderung und Demut.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt