Zum Buch:
Lilianas unvergänglicher Sommer ist kein beschwingter Coming of Age Roman, sondern die wahre Geschichte eines Femizids: dem Mord an einer Studentin durch deren Ex-Freund. Mit diesem sehr bewegenden und berührenden Buch setzt Cristina Rivera Garza nicht nur ihrer ermordeten jüngeren Schwester ein Denkmal, sondern erinnert an die ungezählten und ungeahndeten Verbrechen an Frauen – nicht nur in Mexiko.
Liliana Rivera Garza wurde in der Nacht vom 16. Juli 1990 im Alter von 22 Jahren von ihrem Ex-Freund in ihrer Wohnung ermordet. Zwar konnte ihm die Täterschaft schnell nachgewiesen werden, trotzdem wurde er nie für die Tat belangt. 29 Jahre nach dem Mord versucht Cristina, Einsicht in die Ermittlungsakte zu bekommen, um die Tat zu rekonstruieren. Ein zermürbendes und letztlich aussichtsloses Unterfangen, da die Akte innerhalb des Justizapparates mehrfach hin und her geschoben wurde und mittlerweile unauffindbar irgendwo in einem Archiv gelandet ist.
Die Familie hat das Trauma nie wirklich verarbeitet, Lilianas Zimmer im Elternhaus ist noch unberührt. Als Cristina sich entschließt, über ihre Schwester zu schreiben, beginnt sie, deren Aufzeichnungen zu lessen. Liliana war eine begeisterte Tagebuch- und Briefeschreiberin. Sie hat von dem Moment an, als sie schreiben konnte, minutiös und akribisch ihre Gedanken aufgeschrieben, in Gedichten oder Prosa,mal witzig, mal nachdenklich, mit unzähligen Zeichnungen und Collagen versehen. Diese Tagebücher, die vielen Briefe an Freunde und Famile und die Interviews, die Cristina geführt und transkribiert hat, machen einen wichtigen Teil des Buches aus. So entsteht zunächst das Bild eines kreativen, klugen und sehr sportlichen Kindes, dann eines mal euphorischen, mal nachdenklichen Teenagers und letztlich einer willensstarken, nach Freiheit strebenden jungen Frau.
Aber irgendwann taucht Angel auf, der charmante blonde Junge, der, da er eher einfältig wirkt, zunächst von Liliana verspottet wird, der aber durch Hartnäckigkeit den Weg in ihr Herz findet. Der sie immer wieder betrügt und erniedrigt und ihr doch immer wieder ewige Liebe schwört, der zu Gewalt neigt, ihre anderen Freunde verachtet, den sie mehrfach verlässt, der ihr aber auch noch an der Uni in Mexiko City nachstellt und ihr überall auflauert. Lilianas Wesen verändert sich allmählich, sie zieht sich zurück, die Tagebucheinträge werden immer düsterer, zur Chronik einer sich angekündigenden Katastrophe. Die Beschreibung der letzten Tage in Lilianas Leben, dokumentiert durch die Erzählungen von Kommilitonen, sind schwer zu verdauen, und die Leserin fragt sich genau wie Cristina, ob und wie diese Tat hätte verhindert werden können. Eine Tat, die kaltblütig geplant wurde und nur durch das Wegschauen der Nachbarn hatte ausgeführt werden können, die Tat eines offensichtlich gewaltätigen und narzisstischen Freundes, dessen Bedrohlichkeit unterschätzt wurde.
Der Tatbestand des Femizids wurde in Mexiko erst 2012 justitziabel. Zuvor galt der Mord an einer Frau als „Verbrechen aus Leidenschaft“, die Schuld wurde zunächst beim Opfer und ihrem Verhalten gesucht. Immer wieder verlässt die Autorin die Geschichte ihrer Schwester, um das Thema Gewalt gegen Frauen gesamtgesellschaftlich zu betrachtet. Lilianas unvergänglicher Sommer ist nicht nur eine Hommage an eine geliebte Schwester, sondern ein wichtiger Beitrag zum Thema Gewalt gegen Frauen und wurde zu Recht 2014 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Andrea Schulz, autorenbuchhandlung marx & co